: Die Hausmeisterin
Eine Praktikerin erzählt aus ihrem Leben
VON GABRIELE GOETTLE
Bea Fünfrocken, selbständige Elektrikerin u. Hausmeisterin in der „Schoko-Fabrik“ Berlin. 1969 Einschulung i. d. Grund- u. Hauptschule Überherrn/Saarland, 1974 Übergang z. Robert-Schumann-Gymnasium Saarlouis, 1982 Abgang m. d. Allgemeinen Fachhochschulreife. 1982–1996 div. Ausbildungen: zur Hauswirtschaftlerin, zur Heilerziehungspflegerin u. z. Elektroinstallateurin. Div. Berufstätigkeiten u. ab 1999 Hausmeisterin i. Frauenzentrum Schokoladenfabrik e. V. Seit 2003 nebenberuflich mit ihrem Kleinstbetrieb „crassa minerva“ als Reparaturhandwerkerin tätig. Seit 1995 i. div. politischen Gruppen aktiv, u. a. Friedens- u. Anti-AKW-Bewegung; 1988/89 Mitherausgabe eines autonomen Frauen- u. Lesben-Infos/Ffm; 1988–93 Frauengruppe gegen Gen- u. Reproduktionstechnologie, Mai 1990 antieugenische Info-Veranstaltung: Zur Kontinuität der „Ausmerze lebenswunwerten Lebens“. 1990 u. f. Hausbesetzungen i. d.: Mainzer Straße, Grünberger Straße, Dieffenbachstraße. Seit 1994 i. d. anarchofeministischen Frauen- u. Lesbengruppe „Las Loccas“ Mitgestaltung d. Bildungsseminare. Seit vielen Jahren zusätzlich Technikkurse f. Frauen. 2003 Mitbegründerin der „Genossinnenschaft Schokofabrik“, das. Aufsichtsrätin. Wohnt seit 2004 i. kollektiven Kreuzberger Gewerbehof „Kerngehäuse“. Bea Fünfrocken wurde 1963 in Ensdorf/Saarland geboren – ihr Vater war Bergmann, die Mutter Hausfrau – sie ist ledig, kinderlos u. lebt in fester lesbischer Beziehung.
Die Schokofabrik liegt im Berliner Bezirk Kreuzberg, zwischen dem Künstlerhaus Bethanien und dem Heinrichplatz. Vor dem Mauerfall eine heruntergekommene Wohngegend in Grenznähe, bevorzugt von Autonomen und eher Schlechterverdienenden bewohnt, ist hier heute alles saniert und wirkt ein wenig verödet. Das Politische hat sich verflüchtigt oder nach innen zurückgezogen. Farbe und Lebhaftigkeit gehen einzig noch vom türkischen Straßen- und Geschäftsleben aus. Bea Fünfrocken empfängt uns in einem ehemaligen Laden in der Naunynstraße, in dem das Büro des Schoko-Frauenzentrums untergebracht ist. Im Schaufenster liegen aufgefächert blaue Broschüren zum Angebot des Frauensports, an der Hauswand geben glänzende Metallschilder Auskunft über Angebot und Öffnungszeiten der einzelnen Projekte. Das Büro ist an diesem Tag ungenutzt. Wir lassen uns nieder zwischen wohlgeordneten Schreibtischen mit Computern, Aktenregalen und Pinnwänden, am Besuchertisch. Bea bewirtet uns mit Kaffee und erzählt:
Also drüben, die beiden Hinterhäuser in der Mariannenstraße, das war früher ja mal die Kreuzberger Schokoladenfabrik Grieser & Dobritz. Sie hat 1968 geschlossen und ist danach mehr als zehn Jahre leer gestanden, bis die Gebäude dann 1981 besetzt wurden. Da war schnell klar, es sollte ein autonomes feministisches Frauen- und Lesbenzentrum gegründet werden. 1982 wurden die Häuser legalisiert und mit Hilfe von öffentlicher und privater Unterstützung zum Frauen-Stadtteil-Zentrum Kreuzberg e. V. Schokofabrik ausgebaut. Nach der Wende wurde es dann langsam schwieriger, als die Fördermittel knapper wurden in der Stadt. Und dann kam die Verkaufsgeschichte. Die Gebäude hier gehörten ja der GSW, der ‚Gemeinnützigen Siedlungs- u. Wohnungsbaugesellschaft‘, sie waren 80 Jahre lang öffentliches Eigentum. Der Senat hat die GSW 2004 an die US-Investgesellschaft ‚Cerberus‘ verkauft. Und 2003 haben wir gesagt, wir wollten das kaufen, denn sonst sind wir weg vom Fenster.
Geld hatten wir keins und haben dann mit Anne Wulff zusammen, vom Finanzkontor, das Genossinnenschaftsmodell entwickelt. Und 2004 haben wir dann tatsächlich insgesamt vier Häuser gekauft: Also hier die Naunynstraße – Vorder- und Hinterhaus – ist Frauenwohnprojekt und wurde von den Frauen als Eigentumswohnungen gekauft, und wir haben als Genossinnenschaft drüben die Mariannenstraße gekauft, Vorder- und Hinterhaus. Hinten sind unsere Veranstaltungsetagen. Da sind auf etwa 1.000 qm, verteilt auf sechs Etagen, unsere Dienstleistungen und sozialen Angebote untergebracht. Das sind: die Sport- und Tanzetagen, der Treffpunkt für Frauen und Mädchen aus der Türkei, die Tischlerinnenwerkstatt und das Café im Erdgeschoss, das aber derzeit geschlossen ist, und unten im Haus befindet sich das Frauenbad, das Hamam. Das Vorderhaus ist normal vermietet. Und hier in der Naunynstraße haben wir dann noch das Büro, den multikulturellen Schülerinnenladen ‚Schokoschnute‘ und die Beratungsstelle für Rechts-, Miets-, Erwerbslosen- und psychosoziale Beratung. Also dieser ganze Teil ist das Frauenzentrum, und das ist sozusagen Mieterin bei der Genossinnenschaft. Und damit das auch funktioniert, haben wir die Aktion „1.000 Tanten für die Schokofabrik“ gemacht, die Schokotanten helfen uns, mit einem Monatsbeitrag von 2,50 Euro, die Betriebs- und Unterhaltskosten aufzubringen. Es läuft, aber wir müssen gut kalkulieren. Es arbeiten jetzt 20 Frauen im Projekt.
Meine Arbeit als Hausmeisterin ist quasi so im Schnittpunkt angesiedelt, ich bin für alle vier Häuser und zwei Grundstücke zuständig und für die gesamte Hausverwaltung. Dafür habe ich 18 Stunden in der Woche zur Verfügung, da muss ich schon sehr strukturiert vorgehen, um die Arbeit zu schaffen. Aber ich habe ja mal ‚ländliche Hauswirtschaft‘ gemacht, da lernt man strukturieren, das kommt mir jetzt zugute.“
Wir fragen nach dem Hamam, ob auch türkische Frauen kommen. „Na … eher nicht, die kommen aber zum Treffpunkt und in die Beratung. Damals, als das alles hier aufgebaut wurde, da gab’s die Idee, etwas türkische Kultur herzuholen. Unsere Architektinnen sind sogar in die Türkei gefahren und haben sich das dort angeguckt. Was rausgekommen ist, das ist halt so eine Mischung aus deutschem Bad- und Schwimmbadstil mit ein paar orientalischen Akzenten wie die Mosaikkuppel und die Badenischen mit den Marmortrögen, na ja und dann hat man halt mit Tüchern, Teppichen und orientalischen Lampen etwas Farbe reingebracht. Heute würde man das, glaube ich, anders bauen. Aber die Frauen kommen gern, das wird auch gern verschenkt, so ein Hamambesuch. Es gibt auch eine winzige Sauna und Räume für Pflege und Kosmetik, und für Massage und Entspannung. Drei Stunden baden kosten 12 Euro, fünf Stunden 21 Euro. Behandlung wie Massagen, Peeling, Enthaarung usw. kostet natürlich extra, Beinenthaarung zum Beispiel 26 Euro. Ja, nichts für Hartz-IV-Empfänger, das stimmt, aber der ganze Bereich ist sehr teuer, weil man ausgesprochen viel Wasser braucht, Strom, Heizung, im Baderaum sind immer 32 bis 35 Grad, das kostet. Es ist halt in der gesamten Schoko so, das sollte ja nicht kommerziell genutzt werden, ursprünglich, alles war Teil des Hauses und für die Frauen selbst gedacht. Die Sportetage war anfangs auch nur zum Einüben der Selbstverteidigung für die Frauen hier, aber dann haben sie sich eben langsam zu Unternehmerinnen entwickelt.“
Wir möchten wissen, weshalb sie Elektrikerin wurde. Lachend sagt sie: „Ich hatte eigentlich nie vor, Elektrikerin zu werden. Am besten, ich erzähl mal von vorne: Ich habe eine ‚Ausbildung zur Bäurin‘ gemacht ursprünglich. Das haben sich die Bäurinnen mal richtiggehend erkämpft, denn vorher waren sie ja nur die Frau vom Bauern. Also ich komme nicht vom Land, wir hatten keinen Hof. Mein Vater war Bergmann, meine Mutter Hausfrau. Wir wohnten in einer Bergarbeitersiedlung. Ich ging aufs Gymnasium, weil ja damals auch Arbeiterkinder aufs Gymnasium konnten, heute eher nicht mehr so … Und mir war bald klar, ich will nicht studieren. Dann habe ich abgebrochen und wollte Gärtnerin werden, hab auch ein Praktikum gemacht, aber der Chef hat gesagt, wir nehmen keine Frauen, denn Frauen werden schwanger, und sie können keine Schubkarren fahren. Bei einer Klassenfahrt in den Schwarzwald hatte ich mal gehört, dass es ‚Dorfhelferinnen‘ gibt, ausgebildete Bäurinnen, die, wenn die Bauersfrau krank ist oder verstirbt, da professionell aushelfen. Da dachte ich, das mache ich, und habe mir bei der Landwirtschaftskammer eine Liste geholt und mich beworben.
Gleichzeitig hatte ich mich beworben um eine Stelle als Au-pair-Mädchen in Frankreich. Die bekam ich auch, und da habe ich es bei der Landwirtschaftskammer durchgesetzt, dass mir das anerkannt wird als erstes Ausbildungsjahr. Ich hatte gesagt, ich will eine Familie auf dem Land. Ich bin dann holterdipolter innerhalb kürzester Zeit hingefahren, kam mit meinen Jeans und mit meinem Flanellhemd abends auf dem Bahnhof an in La Rochelle und wurde von einer sehr eleganten Dame mit zwei kleinen Jungen in Matrosenanzügen abgeholt. Wir fuhren dann in die Villa der Schwiegereltern. Das war die Familie Godet, die sind berühmt in Frankreich, weil sie zu den ältesten Cognac-Herstellern gehören, ich glaube, 1780 haben sie damit angefangen, in der Charente-Maritime. Na da war ich gelandet und sollte also nun gleich den Kindern die Crevetten auf ihren Tellern herrichten zum Essen. Ich hatte bis dahin noch nie im Leben Crevetten gesehen und habe gerätselt, was man nun damit macht. Ich war vollkommen irritiert, ich kannte so eine Welt bis dahin überhaupt nicht, wusste nicht mal, dass so was existiert. Sie haben mir dann aber alles gezeigt und waren sehr nett. Ich musste nicht putzen, nicht waschen, nicht kochen, wie die anderen Au-pair-Mädchen, sie hatten Personal. Ich musste mich nur um die Kinder kümmern, Madame Bodet war wieder schwanger. Französisch konnte ich ja so einigermaßen. Dort blieb ich also ein Jahr lang.
Als ich zurückkam, da war das mit der nächsten Stelle ja schon ausgemacht. Die war auf einem Hühnerhof, ganz konventionell modern, mit Legebatterie und so. Das war der Horror, aber ich habe natürlich eine Menge gelernt, im Garten, das Kochen, den Haushalt organisieren. Aber ich musste auch mit schlachten. Also auf dem Bauernhof gibt es eine ganz rigorose geschlechterspezifische Arbeitsteilung. Ich war völlig geplättet. Es gibt bestimmte Arbeiten, die macht der Bauer. Kopf abhacken war ganz klar seine Sache. Dann musste ich das übernehmen, den zappelnden Rest. Rupfen, dann halt hinten aufschneiden und … Ich kann mich noch erinnern, wie ich das erste Mal in so ein Huhn reingreifen sollte, die sind ja noch sehr warm von der Todesangst, ich hatte richtige Beklemmung. Ich habe mich nie richtig daran gewöhnen können. Dann gab’s so ein Rollband, wo die Eier sortiert wurden nach den Größen. Also Eier sortieren, das ist auch Frauenarbeit. Mal war die Oma krank und die Frau konnte auch nicht, da musste die Tochter anreisen, denn der Bauer hat sich geweigert, das zu übernehmen. Was sonst noch sehr auffiel, war die Sprachlosigkeit in der Familie, auch beim Essen. Das kannte ich von zu Hause gar nicht, und auch in La Rochelle war’s natürlich vollkommen anders. Die waren stumm, der Bauer hatte seine rechte Nationalzeitung immer da liegen. Da war ich ein Jahr, und ich musste auch immer zu Berufswettkämpfen. Man muss kochen, den Tisch richtig nach Vorschrift decken, Kräuter bestimmen, irgendwas nähen oder sticken. Währenddessen draußen die Jungbauern sich beim Wettpflügen präsentiert haben. Das ging mir schon sehr gegen den Strich!
Als Nächstes war ich dann auf einem kleinen Milchviehhof, 45 Kühe so etwa, da war’s total nett, aber im Prinzip nicht anders, wo der Altbauer auch gefunden hat, ich darf nicht auf dem Trecker fahren. Als ich kam, hatte meine Chefin grade einen Nervenzusammenbruch hinter sich. Sie haben immer gesagt, sie soll sich mal nicht so anstellen. Das wird ja nicht als ernsthafte Erkrankung betrachtet. Aber sie haben schon irgendwie gesehen, dass, wenn die Bäurin ausfällt, nicht nur der bäuerliche Haushalt, sondern das ganze Unternehmen zusammenfällt. Und zwar mehr als nötig, auch aus Trotz. Die Rolle der Bäurin ist einfach die, dass sie, wenn Not am Mann ist, alles können und alles machen muss, das ist ganz selbstverständlich. Umgekehrt für den Mann gilt das überhaupt nicht. Das ist natürlich alles gar nicht richtig definiert, das sagt keiner, das steht nirgends, aber es ist ein eisernes Gesetz. Also Garten, Küche, Haushalt, klar, ist Frauensache. Melken, der ist ja auch irgendwie technisch, so ein Melkstand, das ist Männersache. Kälberaufzucht ist wieder Frauensache usw. Es gab so ein Wirtschaftszimmer, da waren immer Berge von Bügelwäsche – ich hab seither nicht mehr gebügelt – das war der Wahnsinn! Der Sohn war bei der Bank und brauchte jeden Tag ein frisches Hemd, die Schwiegertochter war Apothekenhelferin und brauchte ihren gestärkten weißen Kittel. Da habe ich oft stundenlang gebügelt, die Bäurin saß an der Maschine und hat was genäht, da haben wir uns viel unterhalten, sie hat mir eine Menge erzählt. Da war ich also auch ein Jahr, dann war ich durch und habe meinen Gesellenbrief bekommen: Hauswirtschafterin im ländlichen Bereich.
Nachdem ich nun das alles gesehen und erlebt hatte, war mir klar, dass ich in diesem Beruf nicht bleiben wollte! Ich hatte gehört, im Hunsrück gibt es ein Kleinstheim für geistig behinderte Erwachsene, die zusammen mit Betreuern auf einem Bauernhof leben und arbeiten. Das interessierte mich. Aber dafür war eine heilpädagogische Ausbildung die Voraussetzung. Also hab ich mich umgeschaut nach einer Fachschule, die kosteten damals alle Geld, aber Geld hatte ich ja von zu Hause nicht. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, im St.-Vincenz-Stift in Aulhausen, das liegt bei Rüdesheim. Es war ein Verwahrheim für etwa 350 geistig Behinderte. Die hatten eine integrierte Schule, also man bekam etwas weniger bezahlt, hatte dafür aber die schulische Ausbildung umsonst. Da habe ich meine nächsten drei Jahre verbracht, habe aber nicht im Heim gewohnt, sondern privat in einer Wohngemeinschaft. Inzwischen war ich so 23 Jahre, und ich fand das keine verlorene Zeit, sondern ganz logisch, immer weiter zu lernen.
Ich hatte eine Jungsgruppe, es war ja nach Geschlechtern getrennt, ein katholisches Haus, sehr prüde, mit einem Direktor, der auch unterrichtet hat, Sonderpädagogik. Der war ein klarer Verfechter der Großverwahranstalten, nach dem alten Prinzip auch noch. Ich hatte ja inzwischen auch von der Antipsychiatriebewegung erfahren und mich damit beschäftigt. Und ich bin dann viel mit den Jungs rausgegangen, statt zu basteln oder so was. Ich hasse Basteln! Ich hatte auch keine Angst davor, wenn einer mal ausgerastet ist, ich bin gut mit denen klargekommen, die meisten konnten einigermaßen reden, hatten aber natürlich ihre Verhaltensstörungen. Ich musste lernen, mich in diese Welt nun reinzuversetzen, in deren Welt. Das hat mich richtiggehend geprägt für mein weiteres Leben, dass ich gelernt habe zu gucken, was meint jemand eigentlich, was will jemand, auch wenn er’s nicht sagt, also mich da reinzudenken in andere. Die Jungs waren so zwischen 8 und 16, ich hab öfters welche mit nach Hause genommen, damit sie auch mal andere Leute und Leben kennen lernen. Dort war ich also drei Jahre, das war die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger, damals war das was ziemlich Fortschrittliches.
Und inzwischen ist es … 1988, IWF-Vorbereitung in Bremen, da lernte ich Frauen kennen, u. a. auch aus Berlin. Ich wollte nichts als weg vom Land, der Hunsrück war dann auch nicht mehr mein Ziel, nachdem ich gesehen hatte, dass es im Prinzip immer darauf hinausläuft, die geistig Behinderten so oder so abzusondern, statt sie mitten reinzunehmen ins soziale Leben. Also ging ich nach Berlin und habe dann erst mal übergangsweise im betreuten Einzelwohnen bei der Lebenshilfe e. V. gearbeitet, habe da ein Paar betreut, mit dem ich heute noch Kontakt habe. Dann kam die Wende, und nach der Wende war ich dann mit dabei bei der Besetzung der Mainzer Straße. Meine Freundin, meine damalige Liebesbeziehung, ist dann auch gleich dort eingezogen und ich war die meiste Zeit bei ihr. Da war ja die ganze Straße besetzt, zwölf Häuser, es gab ein ‚Frauen- und Lesbenhaus‘, ein ‚Tuntenhaus‘, eine Kneipe, alles. Das ging vom Frühjahr 90 bis November 90, dann kam die Räumung, angeordnet von der SPD.
Das war einer der brutalsten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik, und das war übrigens auch das erste ungeheuer martialische Auftreten der Westpolizei in Ostberlin. Es war wirklich das erste Mal in meinem Leben, dass ich Todesangst empfunden habe. Es war ein totales Chaos, viele waren schon abgehauen aus dem Haus oder waren draußen festgenommen worden und wir saßen drin, in einem Raum um einen Wasserbottich herum, wegen der Gasgranaten, und haben der Dinge geharrt. Draußen war Krach und dann sind sie plötzlich oben übers Dach gekommen in ihren schwarzen Uniformen, mit Masken und Helm. Meine Freundin war noch bei mir, und ganz viele, die wir nicht kannten, waren da, Unterstützer. Ganz Jungsche zum Teil. Wir wurden sofort zusammengeknüppelt, richtiggehend zu Boden geschlagen, dann haben sie weiter gedroschen, auf alles, was sich noch bewegt oder gestöhnt hat. Meine Freundin war schon ohnmächtig, neben mir lag einer, dem hatten sie den Arm zertrümmert, der fiepte nur noch, der hatte Schmerzen ohne Ende, andere haben geblutet. Ich hatte nur Schläge abgekriegt. Dann haben sie uns rausgetrieben, Beine breit, Hände an die Wand, so standen wir ewig an einer Mauer, eine Frau hatte einen Milzriss, die wurde weggebracht, der mit dem zersplitterten Arm stand an der Wand. Und hinter uns sind die Bullen hin und her gegangen und es kamen auch Bürger vorbei, aber da hat keiner gewagt, etwas zu uns zu sagen. Es war ganz furchtbar.
Wir hatten ja jetzt kein Haus mehr, die meisten waren ohne Wohnung, da haben wir uns dann umgeschaut. Übrigens, zu dieser Zeit war ich nie in der Schoko, weil die Schoko überhaupt kein Anlaufpunkt für die politische Szene war, wie unsere eine war. Die haben ja von Anfang an verhandelt mit dem Senat usw. Wir haben dann ein Haus in der Grünberger Straße, auch in Friedrichshain, gefunden und besetzt, um dort ein Frauen- und Lesbenhaus aufzubauen. Na ja, in so einem besetzten Haus musst du ja eine Menge selber machen, einmal mussten wir ins Vorderhaus, um einen der Elektrotechniker zu fragen, ob er uns hilft, denn wir kamen nicht weiter. Das hat mich dermaßen geärgert, dass ich mich mal so umgeschaut habe nach Elektriker-Kollektiven. Ich hab auch eins gefunden und dort erst mal ein Praktikum machen können, habe dann aber schnell gesehen, dass dieses Wissen überhaupt nicht ausreicht. Nach einem Dreivierteljahr bin ich zu ‚Polaris-Elektrobau‘, das war ein gemischtes Kollektiv, und habe da meine Lehre begonnen.
In der Berufsschulklasse in Lichtenberg war ich die einzige Frau. Ich habe ein Jahr gebraucht, bevor ich mit denen in Kommunikation treten konnte, ich war ja in eine Domäne eingebrochen. Wir konnten uns aber generell nicht verständigen, auch nicht mein Lehrer und ich. Auf Fragen bekam ich keine Antwort und zwar so lange nicht, bis ich perfekt das technische Vokabular draufhatte. Es hat keiner gefragt, meinst du das so oder so? Gar keine Reaktion. Merkwürdig war das. Es ist eben auch so, dass Jungs es einfach gewöhnt sind, dass Frauen sich in sie total hineinversetzen und reindenken, aber sie selbst haben das nie geübt Frauen gegenüber. Sie kennen das nicht. Später konnten sie dann mühelos mit mir diskutieren, über ein mathematisches oder physikalisches Problem. Ich hatte ja, bevor ich die Ausbildung angefangen habe, einen Mathekurs an der Fachhochschule für Elektrotrechnik gemacht, um mich vorzubereiten. Mein Meister im Kollektiv, der Hans, der war sehr gut, er hat mich auch viel selbst machen lassen. Also ich habe die Ausbildung, wie immer, schön zu Ende gebracht nach drei Jahren, es hat Spaß gemacht. Nun hatte ich meinen Gesellenbrief. Es gab eine schöne Freistellungsfeier, im Kino International, Karl-Marx-Allee, das große Ost-Premierekino, mit dem tollen Vorhang, der so glitzert. Davor standen wir, ein Haufen Jungs und drei Frauen. Wir bekamen den Gesellenbrief und einen Blumenstrauß, die Jungs haben ihren Brief gekriegt und einen Handschlag.
Ab da musste ich alles allein machen und können, gut, ich konnte, wenn ich was nicht wusste, Hilfe holen, die habe ich natürlich auch bekommen. Aber man erwartete das einfach, ich hatte ja meinen Gesellenbrief. Ich bekam meine kleinen Baustellen und habe gern, und ich glaube, auch gut gearbeitet. Im Kollektiv ist es ja immer so, du machst das Gespräch mit dem Kunden, du machst das Angebot, du machst die Baustelle – und du machst die Abrechnung. Das ist ganz schön viel. Ansonsten war auch der Kontakt mit den Kunden gut, kein Problem, dass da eine Frau kam, wenn ich aber mal mit einem Kollegen erschien, dann wurde grundsätzlich nur mit ihm gesprochen. Ich habe so ein halbes Jahr ungefähr weitergearbeitet, aber wie das bei Kollektiven eben so ist, mal gibt’s Geld, mal gibt’s keins – das ist eben ein Problem, wenn man drauf angewiesen ist, so wie ich. Ich musste mal wohin, wo ich regelmäßig Geld kriege. Das war der Grund, weshalb ich weg bin von ‚Polaris‘.
Während ich auf der Suche war, habe ich mir gedacht, also ich kann jetzt so viel, Elektrik nun auch noch, da könnte ich doch eigentlich Hausmeisterin sein, das fand ich toll. Zuständig für alles Mögliche. Ich wusste, in Holland gab es so was. Dann bin ich aufs Arbeitsamt, aber die sagten, sie haben das nicht. Aber es gab so eine Schulung in Reparaturarbeiten für Hausmeister, die war gefördert vom Arbeitsamt. Es gab fünf Firmen, und ich habe mich für eine entschieden, für NILES, oben in Weißensee.“ (Die amerikanische Werkzeugmaschinenfabrik NILES war Lizenzgeber für die 1898 in Berlin gegründete Fabrik gleichen Namens. Sie entstand mitten im Industrialisierungsboom und wurde berühmt für ihre Schleifmaschinen zur Bearbeitung von Präzisionszahnrädern – das Zahnrad war, sozusagen neben dem Proletariat, das Laufwerk des industriellen Fortschritts. NILES, zu DDR-Zeiten „VEB-Drehmaschinenbau 7. Oktober“, ging nach der Wende in Konkurs und existiert heute in kleinen Betriebseinheiten weiter, so auch im „NILES Aus- und Weiterbildungszentrum“. Anm. G.G.)
„Also das war eine Art Qualifizierung, eigentlich eine Maßnahme für arbeitslose Metaller. Für die war es natürlich eine Katastrophe, weil das waren gestandene Kranschlosser usw., die in Rostock ihr halbes Leben lang Verladekräne gemacht haben, und die sollten sich jetzt auf Kleinkram konzentrieren. Wir hatten vier Wochen Grund-Schweißkurs gemacht, was für mich toll war, für die eine völlige Verarschung. Wir hatten ein bisschen Holz, Elektro und auch Fräsen. Super! Ich war aber umringt von lauter resignierten Männern, als einzige Frau natürlich. Denen wurde nur noch vor Augen gehalten, wie sie ihre Zeit bis zur Rente rumzukriegen hatten. Mit mir hatten die weiter kein Problem, die haben sich nur gewundert, dass ich so jung war, dass ich so ’ne komische Frisur habe und auf meiner Arbeitshose ein karierter Flicken drauf war am Hintern.
Und dann musste ich natürlich ein Praktikum machen und hab mich umgeschaut nach Hausmeisterinnen, bei denen ich das machen konnte. Im „BKA-Zelt“ (Berliner-Kabarett-Anstalt. Anm. G.G.) arbeitete eine, dann war da Karin von der taz als Hausmeisterin – später ist sie dann krebskrank geworden – und dann war hier in der ‚Schoko‘ auch noch Helena. Die kannte ich über ‚Autofeminista‘, eine lesbische Werkstatt für Frauen, mit Selbsthilfekursen damals, zum Autoschrauben usw. Ja und dann habe ich hier in der Schoko-Fabrik mein Praktikum gemacht. Helena ist Schwedin und ist eines Tages zurückgegangen und hat mich gefragt, ob ich nicht ihren Job weitermachen will. So kam das. Und dann ist es so, dass ich ja immer noch nebenbei meine Haushaltsreparatur-Kurse mache. Bei ‚Raupe & Schmetterling‘, in diesem Frauenzentrum. Das Publikum ist so 50 bis 70, und die nervt das, für alles einen Service kommen zu lassen, die müssen es vielleicht plötzlich selber können, weil der Mann gestorben ist, der Vater oder der Bruder. Die wollen einfach wissen, wie man eine Lampenfassung repariert oder eine Bohrmaschine benutzt. Dreh- und Angelpunkt ist die Bohrmaschine. Jeder Haushalt hat anscheinend eine, aber keine der Frauen hatte sie je in der Hand.
Die Kurse mach ich immer im Frühjahr und im Herbst, an den Wochenenden. Früher habe ich das bei ‚Autofeminista‘ gemacht. Die hatten ja eine Werkstatt, sogar mit Hebebühne und allem, aber das gibt’s so nicht mehr. Der Bedarf war total zusammengebrochen. Das lag einerseits an dem neuen Selbstverständnis der Frauen, sie haben nicht mehr das Interesse, lassen lieber den Fachmann das machen – selbst beim Motorrad oder Fahrrad –, andererseits lag’s aber auch an den neuen Autos mit ihrer komplizierten Technik, da ist das einfach auch viel schwieriger mit dem Schrauben. Aber Haushaltsreparatur wird weiterhin wie wild nachgefragt. Und dann arbeite ich Freitag oder Mittwoch manchmal selbständig in meinem Ein-Personen-Gewerbe ‚Crassa Minerva‘. Also, das heißt aus dem Lateinischen übersetzt so viel wie ‚mit krassem Hausverstand‘, und damit bin ich dann eben als Reparaturhandwerkerin unterwegs. Diese Kombination gefällt mir ausgezeichnet, ich bin sehr gern Hausmeisterin, und als Hausmeisterin bin ich eigentlich optimal, weil ich ja auch diese soziale Komponente mitbringe. Gleichzeitig bin ich auch Aufsichtsrätin der Genossenschaft und kehre den Hof.
Jetzt sind wir also in der Gegenwart angekommen … nun soll ich auch noch was über meine Herkunft erzählen? Na gut, was soll ich sagen, unser Haushalt war wild und laut. Meine Mama war die klassische Hausfrau, eine ganz überzeugte, die damit auch glücklich war. Für uns Kinder war das echt total super. Meine Eltern sind beide sehr katholisch, und dementsprechend war die Rollenteilung ganz erzkonservativ. Mein Vater war im Bergwerk als Bergmann, hat Steinkohle gefördert. Er hat es gehasst! Ich komme aus einer Ecke, da kommst du als normaler Junge automatisch ins Bergwerk. Auch mein Opa war Bergmann, und die Onkels. Die fuhren alle schon mit 14 als Pimpfe unter Tage und haben die Flöze vorantreiben müssen, weil sie noch so schön klein waren. Mein Vater war der einzige Versorger und musste einfach. Er hat Schichtarbeit gemacht. Früh-, Spät- und Nachtschicht, im wochenweisen Wechsel. Und das hieß, ganz oft muss der Papa am Tag schlafen, und die Kinder dürfen keinen Lärm machen. Das klappte natürlich überhaupt nicht, und er hatte dauernd seine gefürchteten schrecklichen Wutanfälle.
Wir hatten nur ein kleines Haus. Damals, 1967, da gab es so Programme für kinderreiche Familien, mit denen man ihnen ein Eigenheim ermöglicht hat, mit günstigen Krediten. Da wurde dann eine Siedlung gebaut, eine Modellsiedlung, die Häuser hatten Flachdächer. Schrecklich! Weil es immer durchgeregnet hat. Also ein viereckiges Haus mit Flachdach und Garten, daneben dasselbe. Es gab drei Stichstraßen und zwischen den Häusern nur Gehwege. Wir bekamen also so ein Haus mit drei Kinderzimmern, einem Elternschlafzimmer und einem offenen Wohnküchenbereich. Hochmodern. Aber meine Mutter fand das Ganze furchtbar, sie wollte ihre Ruhe haben zum Kochen. Die Zimmer waren miniklein und superhellhörig. Das gab natürlich immer Stress für meinen Bruder und meine beiden jüngeren Schwestern. Meine Eltern sind Jahrgang 37/38 und sie haben sich eigentlich schon sehr viele Gedanken darüber gemacht, wie sie uns erziehen. Sie sind zwar sehr vom Katholizismus geprägt – also meinen Eltern hat es mehr ausgemacht, dass ich aus der Kirche ausgetreten bin, als dass ich lesbisch bin. Sie sind superkonservativ. Mein Vater ist vom Prinzip her gegen Ausländer, hat aber einen guten Nachbarschaftskontakt zu einem Jugoslawen. Also sie sind einerseits so, und andererseits aber sind sie sehr authentisch, also gradezu widersprüchlich. Als ich mit meiner ersten Freundin nach Hause kam, war ja die Frage, wo schlafen wir denn. Und mein Vater sagte: Ach, die packen wir doch zusammen in ein Bett. Kein Problem. Zugleich ist seine Einstellung eine ganz andere. Aber der Familienzusammenhalt ist wichtiger als alles andere.
Eines Tages hat mein Vater eine betriebsinterne Schulung zum Sanitäter gemacht, es gab Familienrat, ob er über Tage für weniger Geld als Sanitäter arbeiten kann, und weil damals grade Tante Anna bei uns war und gepflegt wurde, wodurch ein bisschen Kostgeld dazukam, hat er’s gemacht und ist über Tage richtiggehend aufgeblüht. Dann hat er diese Vorruhestandsregelung gekriegt, damals durch Lafontaine, bei der Abwicklung der Bergwerke. Heute sitzt er zu Hause mit Parkinson. Meine Mutter tapeziert und streicht alles selbst und ist stolz darauf. Ich glaube, sie sind auch ein bisschen stolz auf mich, obwohl gerade die Mama das damals gar nicht so gut fand, dass ich von der Schule abgegangen bin. Denn sie hat dafür gesorgt, dass wir Mädchen eine gute Ausbildung bekommen, während sie gar keine Ausbildung hatte. Mein Vater war eher der Meinung: Wieso, die heiraten ja doch … Aber sie haben ja noch meinen Chemiebruder, auf den sie sehr stolz sind, denn mit ihm haben sie einen Doktor in der Familie; zum ersten Mal. Ich wollte nicht studieren, viele können das einfach nicht verstehen, als wenn es kein Leben ohne Studium gäbe! Mein Schulabbruch war mein Glück, denn sonst hätte ich ja nie Hausmeisterin werden können!“