Die Märchen der Gaukler

OPER Endlich dürfen große Stimmen zeigen, wie gut sie Theater spielen: Irina Brooks inszeniert Donizettis „Der Liebestrank“

Man versteht, warum diese nicht besonders tiefsinnige Oper noch immer so beliebt ist

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Eine Theatertruppe zieht mit ihren Wohnwagen über die Dörfer. Heute hat sie sich in der Deutschen Oper niedergelassen und auch schon die Bühne aufgebaut. „Teatro Adina“ steht in goldenen Lettern auf einem blauen Band darüber. Wenn man im Textbuch (oder auch im Programmheft) nachschaut, kommen die jungen Leute aus dem Baskenland. Sie üben noch Tanzschritte, Stellungen. Es klappt ganz gut, sie lachen und haben Spaß.

Dann wird es dunkel im Saal, das Orchester beginnt zu spielen. Laute Akkorde mit Pausen dazwischen, so, als seien auch die Musiker noch nicht sicher, was das werden soll mit diesem Theater. Dann haben sie sich gefunden in einem lustig hüpfenden Rhythmus. Sie trällern und trillieren den Chor herbei. Angeführt von einer besonders blonden jungen Frau, belehrt er uns, dass kein „Trank“ helfen kann, wenn uns die „Glut der Liebe“ plagt.

Die Theaterleute wollen nämlich „Tristan und Isolde“ aufführen. Dort ist es umgekehrt. Die beiden aus dem 13. Jahrhundert können sich eigentlich überhaupt nicht ausstehen, aber ein schlimmes Giftwässerchen zwingt sie dazu, sich ständig zu begehren. Der Stoff war schon immer inspirierend. Eugene Scribe, der Serienschreiber aus Paris, hat dem ebenfalls sehr fleißigen Felice Romani (zu seinen Kunden gehörten auch Rossini und Meyerbeer) die Vorlage für eine paradoxe Komödie geliefert: Der Zaubertrank soll ein Paar zusammenführen, das sich sehr wohl liebt, aber nicht traut.

Von der Seite kommt Dimitri Pittas herein, in New York geboren und ausgebildet. Auch er ist ein junger, hübscher Mann, aber trostlos grau gekleidet, weil er in der Truppe nur den Dreck zusammenkehrt. Das macht er auch jetzt und beginnt dabei zu singen. Es ist ein Schock. Vom ersten Ton an, leuchtend klar und intensiv, kehrt die ganz große Oper an die Bismarckstraße zurück, die hier so oft vermisst wurde.

Das zunächst ein wenig brav und nostalgisch anmutende Arrangement hölzerner, bunt dekorierter Wohnwagen wird zur Spielstätte von Fellinis Gnaden. Nur dass kein Film zu sehen ist, sondern das gegenwärtige Spiel von Sängern und Sängerinnen, die glücklich darüber sind, endlich einmal nicht nur teuer bezahlte Stimmen sein zu müssen. Sie dürfen Menschen spielen, die allesamt Helden des Alltags sind. Narren, Schwindler und Träumer erzählen Märchen, an die sie selbst glauben, obwohl sie wissen, dass sie nicht wahr sind.

Aber gut erfunden, sagt Heidi Stober mit einem Buch in der Hand. „Lies vor, lies vor“, singt der Chor, und Stober beginnt mit der Sage von Tristan und Isolde – und wieder ist die ganz große Oper zu hören. Pittas Tenor und Stobers Sopran wären – einzeln oder im Duett – für sich allein schon ein Erlebnis für alle Freunde der italienischen Oper. Schöner kann der klassische Belcanto gar nicht klingen.

Nur geht diese Aufführung darüber weit hinaus. Ihr Zauber liegt darin, dass auch ein Dimitri Pittas und eine Heidi Stober nicht die Superstars an der Rampe sein müssen, die sie sehr wohl sind. Auch sie sind eingebettet in diese Welt der Gaukler, in der noch die letzte Choristin ihre individuelle Rolle ausspielen darf. Dafür hat Irina Brook gesorgt, die nach diesem Meisterstück an Personenführung nicht mehr nur als Tochter ihres großen Vaters angekündigt werden sollte. Mag sein, dass sie bei Peter Brook die Individualität von Schauspielern schätzen gelernt hat, was sie aber hier daraus gemacht hat, ist einzigartig. Alles, jede noch so kleine Geste stimmt, die Bühne lebt, und man versteht, warum diese nicht besonders tiefsinnige Oper von 1832 noch immer so beliebt ist. Sie ist ein graziös zwischen Melancholie und Albernheit schwebendes Theater für Sängerinnen und Sänger, denen Gateano Donizetti alles gegeben hat, um uns angenehm zu unterhalten.

Natürlich kriegen sich am Ende der Tenor und der Sopran. Zuvor müssen sich noch ein Bass und ein Bariton an die Arbeit machen. Auch Nicola Alaimo und Simon Pauly genießen ihre Brook’schen Figuren in vollen Zügen. Der eine ist ein Quacksalber, der es schafft, billigen Wein als Medizin gegen sämtliche Plagen der Welt zu verkaufen, ein strammer Soldat und Nebenbuhler der andere.

Es ist eine wunderbare Nacht, der Vollmond steht am blauen Himmel über den Wohnwagen. Am Ende darf dann auch Roberto Rizzi Brignoli auf die Bühne kommen und sich verneigen vor seinem Berliner Publikum, das dankbar und glücklich klatscht. Zu Recht, denn er hat die ganze Zeit im Orchester dafür gesorgt, dass kein einziger Ton verloren geht. So werden Märchen dann doch wahr.

■ Nächste Aufführungen: 30. 4., 3., 8., 10. 5., 27. 5. 2014