: 80 Tote in pakistanischer Koranschule
Luftangriffe des pakistanischen Militärs gelten angeblich Islamisten, die Taliban unterstützen. Die Lokalbevölkerung beklagt hingegen den Tod Unschuldiger. In der Grenzregion zu Afghanistan rekrutieren die Taliban seit langem ihre Kämpfer.
AUS DELHI BERNARD IMHASLY
Für bis zu 80 Insassen endete der Besuch einer Koranschule in Pakistans Nordwesten gestern tödlich. Die Madrassa nahe der afghanischen Grenze wurde durch den Raketenbeschuss durch pakistanisches Militär völlig zerstört. Nach Militärangaben habe es sich um eine Trainingsstätte für Terroristen gehandelt. Im pakistanischen Fernsehen sah man jedoch wütende Einheimische, die die Angriffe auf „unschuldige Islamschüler“ verurteilten. Nach Angaben eines Sicherheitsbeamten befindet sich unter den Toten der gesuchte Taliban-Kommandeur Mullah Liaqat. Er habe die Koranschule geleitet und Aufständischen Unterschlupf gewährt.
Die Kommandoaktion fand in der Nähe der Stadt Khar statt, dem Hauptort der Region von Bajaur, dem Siedlungsgebiet der Mohmand-Stämme nördlich von Peschawar. Der Bezirk grenzt an die afghanische Provinz Kunar, und wie diese hat die lokale Bevölkerung den Ruf, eine besonders konservative Form des Islams zu befolgen. Es ist der westlichen Antiterrorkoalition nie gelungen, Kunar für die Regierung in Kabul zu sichern. Einer der Gründe war die Unterstützung, welche die afghanischen Taliban aus Pakistan erhielten. Wie in südlicheren „Tribal Areas“ von Nord- und Südwaziristan haben sich auch in Bajaur lokale Taliban-Milizen unter Führung konservativer islamischer Kleriker konsolidiert, welche die Stammesstrukturen immer stärker unterlaufen. Zwei Tage vor dem gestrigen Angriff hatten Demonstranten in Khar Ussama Bin Laden und den afghanischen Taliban-Führer Mullah Omar als Helden gefeiert.
Wie in Waziristan hat die pakistanische Armee auch in Bajaur Truppen stationiert. Ähnlich einem Abkommen, das die Stammesgruppen mit den Taliban dort ausgehandelt hatten, liefen auch in Bajaur Gespräche mit demselben Ziel. Es geht um die Wiederherstellung der Stammesautorität, die unter der Okkupation der Armee und der Herausforderung durch die Taliban immer mehr geschwächt worden ist. In Waziristan war vereinbart worden, dass sich die Armee zurückziehen würde, wenn die Stämme sicherstellen, dass lokale Taliban und ausländische Dschihadis die Grenze zu Afghanistan nicht mehr überschritten. Im Gegenzug würden inhaftierte Taliban freigelassen und Waffen zurückerstattet.
Die Abkommen wurden in Afghanistan und im Ausland als Kapitulation der staatlichen Autorität und als Freibrief für die Islamisten kritisiert. In Südwaziristan, wo ein derartiger Vertrag schon lange in Kraft ist, haben der Rückzug der Armee und die Freilassung von Al-Qaida-Kämpfern bisher nicht das offiziell genannte Ziel erreicht. Sie scheinen eher die Macht lokaler Mullahs und ihrer Taliban-Milizen zu konsolidieren.
Lokale Journalisten berichten, dass immer mehr Bewaffnete mit Ordnungsaufgaben auftreten, deren Insignien sie als Taliban-Kämpfer ausweisen. Auch in Nord-Waziristan, wo vor zwei Monaten ein ähnliches Abkommen unterzeichnet wurde, hätten Taliban-Büros bereits begonnen, im Streit zwischen Stammesmitgliedern zu schlichten. Auch scheinen sich eine regelrechte Taliban-Justiz und -Steuerbehörden zu etablieren, die in offener Gegnerschaft zur Stammesjustiz der Jirgas agieren.
Das Ziel Pakistans, mit dem Abzug seiner Truppen den freiwilligen Verzicht der Taliban auf Grenzübertritte nach Afghanistan aus den Stammesregionen zu erreichen, scheint kurzfristig zwar erfüllt, denn in Waziristan sind sie zurückgegangen. Doch die Taliban-Kämpfer, die dieser Tage von pakistanischen Medien zitiert werden, scheint das nicht aufzuhalten. Sie sagen, es gebe viele Wege, um ins Nachbarland zu kommen und dort den Kampf gegen den Westen fortzuführen. Für Afghanistan hat der Abzug der pakistanischen Militärs im Grenzgebiet verheerende Folgen, wie die gestiegenen Anschläge auf Nato-Truppen in den östlichen und südlichen Nachbarprovinzen beweisen.
Beobachter in Peschawar deuten den Angriff in Bajaur daher als einen Versuch Islamabads, der internationalen Kritik zu begegnen, es versage im Kampf gegen den grenzüberschreitenden Terror. Möglicherweise ging es dem Musharraf-Regime jedoch vielmehr um die Ansage an den heimischen radikalen Klerus, dass es hart zuschlagen kann.