Von Stuttgart nach Caracas

KUNST Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt Arbeiten der Künstlerin Gego – zusammen mit Werken der aus Besigheim stammenden, in Caracas bekannt gewordenen Luisa Richter

Mit dieser sehenswerten Schau werden zwei Frauen präsentiert, die nach wichtigen Lebensstationen in Stuttgart aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Caracas übersiedelten und dort als Künstlerinnen erfolgreich wurden

VON CHRISTIAN HILLENGASS

„Die tropischen Breiten überflutet ein Meer von Licht, immer mehr Licht und eine weite atmosphärische Klarheit. Etwas unwiderstehlich Verlockendes, wo es nur einen fortlaufenden Sommer gibt, während des ganzen Jahres, wo die Hitze bleiern auf der Erde lastet und eine dumpfe Schwere zuweilen alle Tatenlust lähmt.“

Eine Wandernde zwischen zwei Welten schreibt diese Sätze in ihr Tagebuch: die 1928 in Besigheim bei Stuttgart geborene Luisa Richter. Nach ihrem Kunststudium in Stuttgart hatte die Meisterschülerin von Willi Baumeister 1955 Deutschland verlassen, um sich mit ihrem Mann, einem deutschen Ingenieur, in Caracas niederzulassen. Ihre Malerei bekommt dort einen neuen Schub, wird eigensinniger und abstrakter und fängt an, das Licht, die Erdfarben und Eindrücke der neuen Heimat widerzuspiegeln.

Vor allem ihre sogenannten Flächenräume sind vom tropischen Licht inspiriert: großformatige Arbeiten auf Leinwand, bei denen das Licht alles Feste bricht. Das, was da vielleicht einmal Fenster- oder Türrahmen, Balkonbrüstung, Häuserreihe, Wolkenfront oder Bergkette war, wird durch die Herrschaft dieses Lichtes zur Abstraktion transzendiert. Nur noch Konturen und Fragmente der Dinge verbleiben und formieren sich zu geometrischen Wechselspielen, die dem Raum vordergründig noch so etwas wie Struktur und Gleichgewicht verleihen, während sich dahinter das Universum auftut. Nicht der Einsatz von grellen Farben führt zu diesen Lichtbrechungen.

Zwar wird Weiß in vielen Spielarten verwendet, der Gesamteindruck der Flächenräume ist auf den ersten Blick jedoch fast trüb. Es dominieren Pastellfarben, die einen beinah staubig-dunstigen Film über die Bilder legen. Erst bei anhaltender Betrachtung beginnt das Leuchten und ein Verständnis für dieses eigentümliche Licht; ebenso dauert es ein wenig, bis man das Gleichgewicht der Formen fühlt und durch die abstrakten Prismen ins Unendliche blickt.

Durch ihr Werk, das neben der Malerei auch aus Collagen besteht, wird Luisa Richter zu einer der bekanntesten zeitgenössischen Künstlerinnen Lateinamerikas. Dass sie Frau und Immigrantin ist, steht ihr dort nicht im Wege. 1978 vertritt sie Venezuela mit den Flächenräumen auf der Biennale in Venedig, was ihr auch international zum Durchbruch verhilft. Mit ihrer schwäbischen Heimat bleibt sie durch lange Besuche verbunden; bis 1999 pendelt sie oft zwischen Caracas und Besigheim. Ihre Sicht auf das Leben „als Collage“ mag vom Erleben und Zusammenbringen der Gegensätzlichkeiten dieser beider Welten geprägt sein. Ab 1966 wendet sie sich verstärkt dieser Technik zu, mit der sie Persönliches, aber auch Gesellschaftspolitisches thematisiert. Heute, mit 86 Jahren, ist ihr das Wandern zwischen den Welten nicht mehr möglich. Dennoch ist Luisa Richter in ihrer alten Heimat präsent: das Kunstmuseum Stuttgart zeigt sie in der Doppelausstellung „Luisa Richter / GEGO. Line as Object“.

Mit dieser sehenswerten Schau werden zwei Frauen präsentiert, die nach wichtigen Lebensstationen in Stuttgart aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Caracas übersiedelten und dort als Künstlerinnen erfolgreich wurden. Gertrud Goldschmidt (1912–1994), genannt Gego, war im Gegensatz zu Luisa Richter gezwungen Deutschland zu verlassen. 1939 flieht die jüdische Bankierstochter über England nach Venezuela. Im Gepäck führt sie ihr Architekturdiplom, das sie durch ihr Studium an der Technischen Hochschule Stuttgart bei Paul Bonatz erworben hat. Es ermöglicht ihr, in Caracas als Architektin und Möbeldesignerin zu arbeiten, bevor sie sich mit 41 Jahren ganz der freien Kunst zuwendet. Zentraler Gegenstand dieser Kunst ist die Linie, die Gego in allen Spielarten zeichnerisch und installativ verfolgt. Zuvor ein Ding reiner Nützlichkeit, das ihr bei Bauzeichnungen, Skizzen und Konstruktionsplänen hilft, befreit sie die Linie aus dieser dienenden Funktion und stellt sie als eigenständiges ästhetisches Objekt in den Fokus ihres Schaffens.

Daraus entstehen Zeichnungen, Aquarelle und Lithografien sowie raumgreifende dreidimensionale Objekte wie ihre „Esferas“ (Spähren) – Konstrukte aus feinen Drahtlinien, die sich zu organischen, frei im Raum schwebenden Gebilden fügen.

„Line as Object“ war zuvor in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Dort wurde Gegos Kunst in Zusammenschau mit Werken der ebenfalls aus Deutschland nach Amerika emigrierten Künstlerin Eva Hesse gezeigt (taz v. 12. 12. 2013). Mit Luisa Richter kommt nun eine Dritte hinzu, die in der Ferne (wieder) entdeckt wird. Das ist noch kein Trend, solchen Künstlerinnen eine Rückkehr zu bereiten, aber ein starker Impuls weiter Ausschau zu halten; über Tellerränder und Ozeane hinaus.

■ Bis 26. Juni, Kunstmuseum Stuttgart