: „Man muss andere Wege respektieren“
WORTE Der Schriftsteller Amos Oz wird 75 Jahre alt und möchte, wie er sagt, die Fackel weitergeben. Ein Gespräch über sein Leben, Israel und die Möglichkeit, ein Jude ohne Gott zu sein
■ Amos, nicht Herr Oz: Mit „Herr Oz“ lässt er sich nicht gern anreden. „Ich heiße Amos“, sagt der israelische Schriftsteller, der am 4. Mai 1939 als Amos Klausner in Jerusalem zur Welt kam. In Israel gilt er als Nummer eins der lebenden Literaten. Sein Roman „Die Geschichte von Liebe und Finsternis“ ist ein Welterfolg. Oz ist international preisgekrönt und wurde auch in Deutschland u. a. mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
■ Gewissen Israels: Durch sein Engagement gegen die Besatzung und sein frühes Drängen auf einen Dialog mit den Palästinensern ist Oz zu einer Art Gewissen Israels geworden. In den 70er Jahren gehörte er zu dem Mitbegründern der Friedensbewegung „Schalom Achschaw“, trotzdem will er sich selbst nicht als Pazifist bezeichnen.
■ Familie und Bücher: Oz hat mit seiner Frau Nili zwei Töchter und einen Sohn. Sein jüngstes Buch, „Juden und Worte“, verfasste Oz zusammen mit seiner Tochter, der Historikerin Fania Oz-Salzberger. Es erschien im vergangenen Herbst im Suhrkamp-Verlag.
INTERVIEW SUSANNE KNAUL
sonntaz: Amos, Sie sind nach sechzig Jahren Leben auf dem Land vor einigen Monaten nach Tel Aviv gezogen. Wie gefällt Ihnen die Stadt?
Amos Oz: Wir sind hergezogen, um den Kindern und Enkeln näher zu sein. Die Umstellung fällt mir nicht leicht. Ich vermisse die Wüste.
Sie wollten über Ihr neues Buch reden. Darf ich trotzdem ein paar Fragen zu Amos Oz stellen?
Versuchen Sie es.
Warum haben Sie schon als 15-Jähriger das Haus Ihrer Eltern verlassen?
Die Wahrheit ist, dass ich meinen beiden Eltern sehr gezürnt habe. Ich war wütend auf meine Mutter, weil sie sich das Leben genommen hat, als wäre sie mit einem Liebhaber weggelaufen, ohne uns auch nur einen Brief zu hinterlassen. Auf meinen Vater war ich wütend, dass er sie verloren hat. Es musste etwas sehr falsch mit ihm gewesen sein. Und auf mich selbst war ich noch wütender, denn wenn meine Mutter sich das Leben nimmt, dann musste ich ein sehr ungezogener Junge gewesen sein. Die Mutter eines braven Jungen bleibt bei ihrem Sohn.
Ist es noch zu einer Versöhnung gekommen?
Mein Vater ist sehr jung gestorben, aber wir sind uns am Ende seines Leben doch nähergekommen. Allerdings niemals politisch. Über Politik streite ich täglich weiter mit ihm, dabei ist er seit 44 Jahren tot. Ich hatte meine Eltern lange aus meinem Leben verbannt, aber über die Jahre veränderte sich meine Einstellung. Statt Zorn kamen Neugierde, Mitleid und Humor. Ich habe mich immer mehr gefragt, wer meine Eltern waren. In meinem Roman „Die Geschichte von Liebe und Finsternis“ mache ich sie zu meinen Kindern.
Warum entschieden Sie sich damals für den Kibbuz?
Ich wollte anders sein als mein Vater und alles anders machen. Er war der Gelehrte, ich wollte Traktor fahren, er war rechts, ich wurde Sozialist. Mein Vater stimmte unter zwei Bedingungen zu, dass ich in einen Kibbuz ging. Er musste in der Nähe von Jerusalem sein und über eine Schule verfügen, deshalb zog ich nach Hulda.
Sie blieben 30 Jahre und kommentierten das Modell Kibbuz später nicht immer nur wohlwollend. War es ein Fehler, in den Kibbuz Hulda zu gehen?
Mir tut es für meine Kinder leid. Die Kinderhäuser, in denen die Kinder damals noch getrennt von den Eltern wohnten, waren nicht gut für sie. Davon abgesehen, bin ich ohne Groll aus dem Kibbuz weggegangen. Wir zogen nach Arad, weil mein Sohn unter Asthma litt und das Klima dort gesünder für ihn war.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie strikt zwischen Ihren Romanen und den politischen Artikeln unterscheiden, aber ist es nicht so, dass Sie Ihre Helden doch manchmal an die Ideologien glauben lassen, die Ihre eigenen sind, wie Fima, der Held aus „Der dritte Zustand“?
Auf keinen Fall. Ich hege zwar große Sympathie für Fima in dem Buch, aber er ist doch viel naiver als ich und sich viel sicherer, dass es für jedes Problem in der Welt eine Lösung gibt. Ich bin nicht sicher, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt.
Der „dritte Zustand“ ist in Ihrem Buch „eine Gnade, die zu erlangen, man sich jeglichen Willens entledigen muss, alterslos, geschlechtslos, zeitlos, volklos, ohne alles“. Träumen Sie manchmal vom dritten Zustand?
Nein, ich liebe meinen Platz und meine Zeit, auch wenn ich sie nicht ausstehen kann.
In Ihrem neuen Buch „Juden und Worte“, das Sie zusammen mit Ihrer Tochter Fania Oz-Salzberger verfassten, sagen Sie, dass sich das jüdische Volk durch die Texte definiert. Wie funktioniert das?
Ich gehe davon aus, dass es neben der religiösen Definition auch eine weltliche gibt, die sich aus der kulturellen Identität der Juden ergibt. Diese Identität macht uns zum Volk. Die Texte machen uns zum Volk. Übrigens ist es für mich vollkommen unwichtig, ob Abu Masen (der palästinensische Präsident Machmud Abbas) Israel als Staat der Juden anerkennt oder nicht. Das ist unsere Angelegenheit. Mir reichte es aus, wenn er unser Recht zur Selbstdefinition anerkennen würde.
Leider lässt sich Regierungschef Benjamin Netanjahu nicht belehren. Beraten sich andere israelische Politiker mit Ihnen?
Es gibt in Israel die Tradition, dass der Regierungschef Schriftsteller zu sich nach Hause holt. Dort werden wir zu einer Tasse Tee oder einem Glas Wein eingeladen, das kommt drauf an, wer gerade an der Regierung ist, und dann fragt er: Wo haben wir einen Fehler gemacht? Und: Wie sollen wir weitermachen? Und er ist begeistert von deinen Antworten und ignoriert sie doch komplett.
Was sagen Sie, wenn Sie auf den Frieden angesprochen werden?
Der Patient ist bereit zur Operation, aber die Ärzte trauen sich nicht. Die Ärzte sind Feiglinge.
In Ihrem und Fanias Buch tauchen die Palästinenser nicht mehr auf. Stimmen Sie mir zu, dass Sie diesmal den Ultraorthodoxen im Land den Kampf ansagen?
Es ist keine Kampfansage, denn das Buch ist in sehr ruhigem Tonfall geschrieben. Es beschuldigt niemanden, sondern zeigt einen Weg, wie es möglich ist, ein weltlicher Jude zu sein in Bezug auf die Texte, auch ohne Synagoge und ohne den Glauben an Gott. Wir respektieren die, die einen anderen Weg gehen, und sagen nicht, dass unserer Weg der einzige ist. Wir sagen nicht, dass der Weg der Orthodoxen absurd ist, aber wir wehren uns gegen die Orthodoxen, wenn sie sagen, dass wir so leben müssen wie sie.
Ist es auch keine Kampfansage, wenn Sie den „Multi-tasking-Juden“ beschreiben und bedauern, dass viele orthodoxe Juden nicht lernen und arbeiten?
Das ist natürlich eine Kritik. Im Talmud gibt es Dutzende große Gelehrte, die alle einen Beruf hatten. Es gibt im Talmud Stellen, wo explizit steht, dass der Mensch beides tun muss – arbeiten und lernen. Nur an einer Stelle steht das Gegenteil. Im Talmud kann man alles finden.
Hören Sie orthodoxe Stimmen zu Ihrem Buch?
Das Buch ist ganz neu auf dem Markt. Ich habe nebenan einen fetten Aktenordner mit Briefen von Orthodoxen, vor allem von orthodoxen Frauen. Die meisten Briefe sind anonym und sie beziehen sich noch nicht auf dieses Buch, sondern auf die Romane, die ich geschrieben habe. Eigentlich dürften die orthodoxen Frauen meine Bücher gar nicht lesen. Aber sie tun es unter dem Tisch, und dann schreiben sie mir einen Brief, ohne Namen, und fast alle Briefe, die ich von vielleicht hundert Frauen bekommen habe, sagen auf die eine oder andere Art: Ich habe keine Luft, ich kann nicht atmen. Die Bücher gehen von Hand zu Hand. So war es auch vor 150 Jahren in Osteuropa. So begann die moderne Weltlichkeit. Die Studenten in der Jeschiwa lasen auf dem Tisch den Talmud und unter dem Tisch Spinoza. Die Frauen lasen, während die Männer in der Jeschiwa waren.
Ist es nicht verrückt, dass im 21. Jahrhundert Bücher noch immer unter dem Tisch gelesen werden müssen?
Leider ist das in weiten Teilen der Welt noch immer so, in China und in der muslimischen Welt. Die Mehrheit der Menschheit liest Bücher unter dem Tisch.
Sie schreiben mit großem Schmerz darüber, wie schwer es ist, das Päckchen Glauben und Gott von sich zu werfen. Bedauern Sie es manchmal, nicht gläubig zu sein?
Die Rede ist hier nicht nur von Juden, sondern von dem modernen weltlichen Menschen. Bis vor hundert Jahren mehr oder weniger, ob in Deutschland, Ägypten oder in China, wusste er drei einfache Dinge. Er wusste, wo er leben würde, nämlich dort, wo er geboren wurde, oder in dem Dorf nebenan. Er wusste, was er tun würde. Er würde das tun, was sein Vater oder seine Mutter getan haben, oder etwas sehr Ähnliches. Und er wusste, was passiert, wenn er stirbt: Dann kommt er in eine bessere Welt. Die jungen modernen weltlichen Menschen wissen nicht, wo sie leben werden. Wir wissen nicht, was wir tun werden, und wir wissen nicht, was mit uns passiert, wenn wir sterben. Das ist nicht einfach.
Die jüdischen Texte sind die „intellektuellen Tore zur Welt“ für Sie. Sind Sie stolz auf das Erbe des geschriebenen Wortes?
Thomas Mann ist uns nicht weniger wichtig als Bashevi Singer. Wir sagen sogar, dass es zehn Griechen gibt, Philosophen, die uns wichtiger sind als alle Gelehrten im Talmud. Wir zeigen mit diesem Buch nicht auf unseren Bauch und sagen: Seht her, wir sind die Besten. Aber es gibt hier etwas anderes, nämlich eine Kultur, die an das Buch gebunden war. Sie hat vieles andere versäumt. Andere haben Kathedralen gebaut, wir nicht. Wir haben Bücher geschrieben. Andere bauten Pyramiden oder komponierten Kantaten. Wir haben Bücher geschrieben.
Heute werden immer weniger Bücher gelesen. Was bedeutet das für die Juden von morgen?
Die Leute lesen nicht weniger, sondern anders. Sie lesen mehr auf Bildschirmen anstatt auf bedrucktem Papier. Warum sollte das wichtig sein? Stellen Sie sich vor, dass diese gesamte Bibliothek auf einem iPad wäre. Ich will Ihnen etwas sagen: Als Tolstoi seine „Anna Karenina“ veröffentlichte, haben im gesamten Russland weniger Leute das Buch gekauft als heute im kleinen Israel einen Roman von David Grossmann. Ein großer Teil der Leute konnte nicht lesen und selbst die, die lesen konnten, haben keine Belletristik gelesen. Die Situation heute ist nicht so schlecht. Es werden noch immer viele Bücher gelesen. Wir sollten die Vergangenheit nicht romantisieren. Ob die Leute ein Buch in der Hand halten oder einen iPad – das ist eine Frage des Geschmacks. Mir persönlich ist das Buch lieber, egal ob neu oder alt. Ich rieche gern das Papier, auf dem die Geschichte gedruckt ist.
Sie schreiben nicht für Gleichgesinnte und nicht für die Andersdenkenden, sondern für die Zögernden, sagen aber, dass gerade die Leute ohne klare Überzeugungen immer weniger lesen. Geben Sie auf?
Nein, das ist kein Aufgeben, aber ich reiche die Fackel an die nächste Generation weiter. Ich habe Kinder und Enkel. Die sind jetzt an der Reihe.