Die Rendite war garantiert

SANIERUNG Heinrich Kuhn fotografierte Mitte der sechziger Jahre die desolate Wohnungssituation in den Altbau- quartieren. Seine Fotos dienten der Rechtfertigung der Stadtsanierung unter Willy Brandt

Vierzig Jahre „sozialer Wohnungsbau“ à la Berlin garantierte sichere, hohe Renditen für die Eigentümer und gute Gewinne für die Banken – und führte zugleich zu absurd hohen Kostenmieten

VON ULRICH GUTMAIR

Dass Westberlin so aussieht, wie wir es kennen, verdanken wir Willy Brandt. Am 18. März 1963 stellte er die Pläne für eine umfangreiche Stadtsanierung in einer Regierungserklärung der Öffentlichkeit vor. Die Senatsbehörden hatten in sechs Innenstadtbezirken Sanierungsgebiete abgesteckt. Insgesamt 56.000 Wohnungen wurden zum Abriss bestimmt. Viele der teils aus den 1880ern stammenden Häuser waren in einem renovierungsbedürftigen Zustand. Sie sollten durch moderne Wohnkomplexe ersetzt werden.

Dass es in den zum Abriss freigegebenen Quartieren tatsächlich einigermaßen elend zuging, hat Heinrich Kuhn im Auftrag des Senats auf Fotografien festgehalten, von denen einige nun erstmals veröffentlicht worden sind. Kuhn fotografierte Wohnungen, manchmal auch deren Bewohnerinnen. Seine Kamera richtete er in dunkle Hinterhöfe und auf zerschossene Fassaden. Schließlich dokumentierte er die Abrissarbeiten. Es sind einzigartige Bildquellen, die verstehen lassen, warum ein sozialdemokratischer Regierender Bürgermeister Handlungsbedarf erkannte.

Wir schauen in kläglich eingerichtete Zimmer hinein. Die Wände scheinen teils noch den Anstrich von 1895 zu haben, in den Zimmerecken haben sich Feuchtigkeit und Schimmel ausgebreitet, die Küchenbüfetts aus den Dreißigern stehen ehern da. Manche der Wohnungen sehen auf den ersten Blick verlottert aus, als ob Müll und alte Lumpen herumlägen. Bis man bemerkt, dass die Abwesenheit von Schränken den Menschen, der hier wohnt, dazu gezwungen hat, andere Methoden der Aufbewahrung zu ersinnen. Ein Stuhl wird zum Kleiderschrank, ein Arsenal von Gläsern ersetzt die Kommode. Andere Bewohner tun ihr Bestes, der traurigen Umgebung durch saubere Tischtücher, strahlende Gardinen und Blumen auf dem Fensterbrett wenigstens ein bisschen Heimeligkeit abzugewinnen.

Draußen sieht es nicht viel anders aus als drinnen. Der Anstrich der Fassaden blättert ab und hat sich durch den Dreck in der Luft zum typischen Braun amalgamiert, das man nach dem Fall der Mauer noch straßenzügeweise in Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Lichtenberg betrachten konnte. In einem Hinterhof steht ein Kuhstall.

Boris von Brauchitsch hat für den Band einen informativen Essay über die Geschichte des Berliner Mietshauses geschrieben, der bis ins Jahr 1842 zurückblickt. Er zeigt, dass schon damals Wohnungsnot und Spekulation als zentrale Begriffe der Bauwirtschaft präsent gewesen sind. Brauchitsch macht deutlich, dass die Fotografien Kuhns als Argumentationshilfe für das gigantische Stadtsanierungsprojekt dienten. Er blickt ins spezifisch Berlinerische Geflecht von Politik und Wirtschaft, allgemein unter dem Namen Berliner Filz bekannt, und stellt fest, dass beim Westberliner Sanierungsprogramm Bauherren zugleich Stadtplaner waren, Lobbyisten der Bauwirtschaft und der Gewerbemieter zugleich Geldgeber, und Geldgeber zugleich Bauherren.

Dass die Verantwortlichen in einem Netz aus Interessen steckten, ohne dies als Interessenkonflikt zu verstehen, sei allemal bemerkenswert, meint Brauchitsch. Der damals zuständige Senator für Bau- und Wohnungswesen Rolf Schwedler warnte vor den Gefahren der Slumbildung in der Innenstadt, konstatierte in den heruntergekommenen Altbauquartieren eine „negative soziale Auslese“ und propagierte den Totalabriss. Ein Gutachten Peter Kollers kam zwar zum Schluss, dass eine behutsame Sanierung maximal die Hälfte von Totalabriss und Neubau kosten würde. Es wurde aber geflissentlich ignoriert.

Brauchitsch schlägt den Bogen ins Heute und bemängelt, dass der rot-rote Senat unter Klaus Wowereit und Gregor Gysi im Jahr 2002 nach Investitionen von 1,6 Milliarden Euro den sozialen Wohnungsbau einstellte und nun die Devise ausgab: „Öffentliches Geld für öffentliches Eigentum, privates Geld für privates Eigentum.“ Auch wenn man nicht sehr viel Positives über die rot-rote Wohnungspolitik sagen kann, greift die Kritik an ihrer Kurskorrektur zu kurz. Denn wenigstens machte sie einem Modell ein Ende, von dem am Ende Stadt und Mieter wenig profitierten, Eigentümer und Banken aber umso mehr.

Vierzig Jahre „sozialer Wohnungsbau“ à la Berlin garantierte sichere, hohe Renditen für die Eigentümer und gute Gewinne für die Banken – und führte zugleich zu absurd hohen Kostenmieten. Die Kostenmieten, die den Schutz armer Mieter zum Ziel haben sollten, heute aber meist deutlich über dem Mietspiegel liegen, entsprechen den absichtlich in die Höhe getriebenen Baukosten, an denen nicht nur die Bauindustrie verdiente. Sonder-Abschreibungen machten Investitionen für Steuersparer attraktiv. Heute kämpft etwa die Mieterinitiative Kotti & Co. am Kottbusser Tor gegen zu hohe Mieten und die aus ihnen resultierende Verdrängung der Einwohner aus den renditeträchtigen Denkmälern des „sozialen Wohnungsbaus“.

Die Frage ist also: Wie stünden wir heute da, hätte Berlin über vier Jahrzehnte 1,6 Milliarden Euro für kommunales Wohneigentum ausgegeben, also tatsächlich öffentliches Geld in öffentliches Eigentum gesteckt? Und was würde wohl Willy Brandt dazu sagen?

■ „Armutszeugnisse – West-Berlin vor der Stadterneuerung in den sechziger Jahren“. Fotografien von Heinrich Kuhn. Hrsg. von Sabine Krüger. Edition Braus, Berlin 2014, 29,95 Euro