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Archiv-Artikel

Putins Kleptokratie

UKRAINEKRISE Russlands Interessen verstehen – das fordern viele auch im Westen. Doch welche Interessen sind das?

Barbara Kerneck

■ war von 1988 bis 2000 freie Moskau-Korrespondentin, akkreditiert für das Kursbuch. Sie schrieb 2005 das Buch „Russlands Blick auf NATO und EU“.

Seit dem Winter 2011 gingen in Moskau immer wieder Zehntausende Oppositionelle auf die Straßen. Vor allem richteten sich die Demonstrationen gegen die massiven Fälschungen von Parlaments- und Präsidentenwahlen. Wie später auf dem Maidan in der Ukraine zogen in Russlands Großstädten besonders viele junge ManagerInnen, UnternehmerInnen und WissenschaftlerInnen mit.

Erfolgsbremse Korruption

In den Jahren 2011/12 hatten 60 bis 70 Prozent der in Moskau Protestierenden Hochschulbildung, fand der Soziologe Alexander Bikbow heraus. Die meisten sind fleißige und ehrgeizige BürgerInnen. Aber sie leben in einem korrupten Milieu, das auch ihre größten beruflichen Anstrengungen bremst. Mit seinem Krim-Coup hat Wladimir Putin diese Bewegung vorerst gespalten und daran gehindert, sich an den KiewerInnen ein Beispiel zu nehmen. Russlands Interessen zu verstehen, dies fordern nun viele westliche Kommentatoren und meinen damit die Interessen von Russlands Regierung. Doch wie sehen diese aus?

Die erste ökonomische Daseinsvoraussetzungen im heutigen Russland lautet: Es gibt kein gesichertes Recht auf Eigentum. Hast du irgendwo ein Café oder Atelier eröffnet, und dieses Unternehmen sticht den Vettern irgend eines Offiziellen ins Auge, werden sie dich ermuntern, ihnen den Laden für einen Spottpreis zu verkaufen. Wenn du nicht spurst, bekommst du es mit der Polizei, dem Finanzamt oder dem Geheimdienst zu tun. Man erhebt eine frei erfundene Anklage und ein Gericht sperrt dich erst mal weg.

Ljudmila Alexejewna, Vorsitzende des russischen Helsinki-Kommitees, schätzt moderat, dass in Russland zur Zeit rund 70.000 UnternehmerInnen in Gefängnissen sitzen. Die meisten ließen sich keine oder kleine Rechtswidrigkeiten zuschulden kommen. Den Interessen zukünftiger Eigentümer gegen die bisherigen verleihen spezielle Trupps von Berufsschlägern Nachdruck, oft in schwarzen Sturmhauben – sogenannte rejdery (englisch raider, Plünderer). Wladimir Putin hatte recht, wenn er abstritt, dass es sich bei den ohne Rangabzeichen die Krim enternden Männern um russische Soldaten handelte. Es waren Kriminelle. „Partei der Hochstapler und Diebe“ tauft Russlands bisher populärster Oppositioneller, Alexei Nawalny, Putins Partei „Einiges Russland“. Den systematischen Diebstahl am russischen Volk setzt die russische Steuergesetzgebung mit ihren widersprüchlichen Regeln und überhöhten Sätzen fort. Boris Titow, Ombudsmann der Kleinunternehmer, schätzte Anfang 2013, eine zwei Jahre zuvor eingeführte neue Sozialsteuer in Höhe von 34 Prozent (später gesenkt auf 30 Prozent) habe über 40 Prozent dieser Betriebe in die Schattenwirtschaft oder in Steueroasen gedrängt.

Das im russischen Staatshaushalt fehlende Geld fehlt auch in den staatlichen Schulen und Krankenhäusern. Am schlimmsten steht es aber um die wissenschaftliche Forschung. Der Chef des russischen Rechnungshofs, Sergei Stepaschin, sprach in einem Interview im Jahre 2012 von 1,25 Millionen permanent im Ausland arbeitender russischer Spezialisten. Weitere 70.000 Bürger verließen das Land im selben Jahr.

Marode Infrastruktur

Viele störte außer den Arbeitsbedingungen auch die marode Infrastruktur der russischen Großstädte mit ihrer Luftverschmutzung und ihren schlechten Straßen. Putins in der Wolle christlich gefärbte Kleptokratie bringt das eigene Land auf den Hund. Um dies zu verschleiern, braucht Russlands Präsident dichte Nebelvorhänge. Erzeugt werden sie an den Grenzen der Russischen Föderation durch immer neue bewaffnete Konflikte (der Zweite Tschetschenienkrieg, der Krieg gegen Georgien und nun die Krim-Farce). Um die Aggressionen der Zukurzgekommenen im Lande auf äußere Ziele zu lenken, duldet die Regierung immer neue faschistische Grüppchen bis hin zu eingetragenen Parteien.

Rechtsextreme in Regierung

Mithilfe von ganz oben schaffte es im Jahre 2003 der ultrapatriotische Wahlblock Rodina (Heimat) aus dem Stand auf 9 Prozent der Wählerstimmen für die Duma. Die Föderation Jüdischer Gemeinden Russlands warnte damals, diese Partei werde Faschismus im Land verbreiten. Zahlreiche Abgeordnete der neuen Fraktion forderten flugs, alle jüdischen Organisationen in Russland als „extremistisch“ einzustufen. Der Journalist und Diplomökonom Dmitri Rogosin (51), Rodina-Kovorsitzender, entwarf im Jahre 2004 ein Szenarium für die Annexion der zum georgischen Staat gehörenden Republik Abchasien. Auch in der Ukraine wird es ausgeführt: „Hunderte von Freiwilligen würden über die Grenze wechseln … Als Ergebnis würde Russland durch seine eigenen Bürger direkt in den Konflikt hineingezogen, den es nicht selbst initiiert hätte, der aber, zweifellos, zu unvermeidlichen menschlichen Opfern führen würde und große internationale Resonanz hätte.“

Zur Ukraine und zur Krim erklärte er im Jahre 2006: „Ich glaube, der Status der Stadt Sewastopol ist längst definiert [Red.: als Sitz der russischen Schwarzmeerflotte]. Es wäre ein Lösungsansatz, Sewastopol als russische Stadt anzuerkennen. Die Krimfrage lässt sich lösen. Und ich glaube, dass man von hier ausgehend die umfassende Arbeit der Wiedervereinigung Russlands mit der Ukraine durchführen kann. Wenn ich diese Zeiten noch erlebe, dann war mein Leben nicht umsonst.“

Um die Aggression der Zukurzgekommenen auf äußere Ziele zu lenken, duldet die Regierung faschistische Grüppchen

Heute ist Rogosin Viezepremier. Im März hat man sein Vermögen in den USA blockiert. Sein einstiger Kovorsitzender, Sergei Glasjew (53), fungiert als Berater des Präsidenten. Als ernsthafte Konkurrenz für Putins „Einiges Russland“ zersetzten die Geheimdienste die Rodina im Jahre 2006. Doch die Geister, die sie riefen, wurden sie nicht mehr los. Vor zwei Jahren erhob sich die Partei aus der Asche.

Von 2008 bis 2011 hatte man Rogosin für eine Weile fortgelobt, als Gesandten zum Nato-Russland-Rat. Der galt ihm nur als vorübergehendes Mittel, um sein Vaterland international konkurrenzfähiger zu machen.

Die Putin-Administration vertritt nicht staatsmännisch Interessen der Bevölkerung, sondern laviert, um sich von Fall zu Fall an der Macht zu halten.

BARBARA KERNECK