: Zum Teufel mit den ganzen Werten
Mit dem Schlachtruf „Würde. Treue. Verantwortung“ stürzen sich die Dramensammler am Theater Bielefeld in den Kampf um „Schöne neue Werte“, Teil Eins. Sie hinterfragen mit den Mitteln der Theatralität unsere Werthaltigkeit. Anja Hilling, Ulrich Zieger und Falk Richter geben als erste Geleit
VON HEIKO OSTENDORF
Nichts scheint lächerlicher, als die „Wertedebatte“. Sie kommt mal als kurze, aber heftige Feuersbrunst übers Land gerast und hinterlässt größere Ratlosigkeit, als sie vorgefunden hatte. Die einen schreien dann nach Patriotismus und fordern christliche Verhaltensmaßregeln, ohne zu wissen, wie die aussehen. Andere wollen lieber soziale Gerechtigkeit. Der Rest würde gleich alle Werte über Bord werfen.
Das Theater Bielefeld reiht sich in den Reigen der Diskutanten ein und eröffnet eine Reihe mit dem an Aldous Huxley erinnernden Titel „Schöne neue Werte“. Als Stoff-Lieferanten konnte dafür eine erstaunliche Zahl namhafter Dramatiker gewonnen werden, die eigens zu diesem Anlass Texte verfassten. Bereits im ersten Teil „Treue, Würde, Verantwortung“ überraschen die jungen Autorennamen: Anja Hilling, Falk Richter und Ulrich Zieger. Die drei unterschiedlichen Stücke haben der iranischstämmige Regisseur Dariusch Yazdkhasti und Dramaturgin Claudia Lowin zu einem scheinbar wahlloses Werte-Potpourri zusammengebunden.
Die vier Schauspieler streunen zunächst in einen Tschador (Kostüme: Katharina Kromminga) gehüllt über die Bühne, begrüßen die nervösen Nachzügler unter den Zuschauern und üben sich in religiöser Provokation. „Ich find‘, ich sehe aus wie eine islamische Transe“, sagt der schwarz verschleierte Harald Gieche. Die vier Akteure kommen immer wieder zwischen den kurzen Uraufführungs-Texten der Autoren zusammen. Später allerdings unverschleiert. Dann diskutieren sie über Benedikts Regensburger-Rede oder die BenQ-Abfindungen. Dazu tritt Ines Buchmann mit einer Sprengstoff-Weste auf. Die gewollte Lächerlichkeit aus politisch-sozialmoralischen Sequenzen gipfelt dann in Schweiß treibender Werte-Gymnastik und trocken-ironischen Wortgefechten, bevor abrupt zu Richters bereits als ARD-Hörspiel umgesetztes „Deutlich weniger Tote“ umgeschaltet wird. Oberlehrerhaft und mit dem Hauch Arroganz wird da von Protagonisten Rechenschaft gefordert für deren nicht immer angepasstes Verhalten in einer seltsam anti-utopischen, aus brennenden Autos und verwesenden Leichen gezeichneten Gesellschaft. Diese Mischung aus futuristischem Film und Beckett mündet in der hektischen Angst, tatsächlich angepasst zu sein, von menschlicher Würde keine Spur mehr.
Zum Teufel geht auch noch die Treue. Anja Hilling, die viel gelobte Nachwuchs-Theaterautorin, hat ein Monolog-Gedicht beigesteuert, das mit der expressionistisch-ekeligen Deutlichkeit eines Gottfried Benn das Fremdgehen einer Frau beschreibt. Unschuldig und mädchenhaft beginnt der Vortrag, fügt der artifiziellen Sprache Hillings ungeahnte Emotionen hinzu, lässt die ratlose Verzweiflung über den Treuebruch immer wieder in orgastische Lust übergehen.
Ähnlich weit an die Grenze der menschlichen Räson wird es auch in „Der Bürgermeister“ von Ulrich Ziegers getrieben. Dort lastet die Verantwortung einer heillos zerstrittenen Stadt untragbar auf den Schultern des Stadtoberhaupts. Nach dem er sich drei Kugeln in den Kopf gejagt hat, hält er seiner Gemeinde eine wahnwitzige Rede. Irgendwo angesiedelt zwischen Politikerparodie und „Einer flog über das Kuckucksnest“. Schauspieler Gieche braust dafür über die mittlerweile mit Nägeln, Matuschkas, Plastikpflanzen und einer Buddhastatue wild dekorierte Fläche (Bühnenbild: Friederike Hölscher), um virtuos in infantilem Irrsinn zu enden. Auch wenn das Werte-Intermezzo zum Teil aufgesetzt, klischeehaft und in der maßlosen Übertreibung abgegriffen wirkt, hat Yazdkhasti einen Themenabend entworfen, der mit dem Charme einer Werkstattinszenierung lustvoll den Wertewahnsinn in Frage stellt, gleichzeitig an die Folgen einer wertfreien Welt erinnert. Erst 2007 folgen Teil Zwei und Drei der Reihe mit Beiträgen von Moritz Rinke und Gerhard Meister. Noch in dieser Spielzeit soll ein einwöchiges Festival mit politischen Texten entstehen. Die Wertedebatte hält in Bielefeld an.
So, 12. November, 19:30 UhrInfos: 0521-515454