BEIM BÄCKER
: Kein Penner

Nur in Kreuzberg gibt es noch jute Menschen

Ich bin schlecht gelaunt, niemand will mit mir frühstücken. Also lade ich mich selbst zum Biobäcker ein. Nehme ein Buch mit, bestelle ein Croissant und einen Chai Latte. Jetzt wird alles gut. Aber die Leute beim Bäcker nerven mich, weil sie reden. Für mich ist es zu früh zum Reden und erst recht zu früh zum Zuhören oder auch nur zum Ignorieren. Deswegen setze ich mich raus. Da es so arschkalt ist, bin ich draußen die Einzige. Gut so. Ruhe zum Lesen.

Erst jetzt stelle ich fest, dass mir die Bäckerin keinen Chai Latte gemacht hat, sondern einen Latte macchiato. Na toll. Igitt. Jetzt sitze ich hier draußen beim Kreuzberger Biobäcker und trinke einen Latte macchiato wie die letzte gentrifizierte Schlampe. Das habe ich nie gewollt. Außerdem werde ich mich erkälten, egal, dann haben die Leute wenigstens Mitleid mit mir. Ein Mann mit Plastiktüten kommt vorbei und fragt mich, ob ich ihm fünfzig Cent geben kann, für was zu essen. Kann ich, mach ich. Er stellt die Tüten ab.

„Gestern wollten se mich beim Schwarzfahren kontrollieren, bin ick abjehauen“, sagt er. „Gut gemacht“, sag ich. Er setzt sich an den Tisch neben mir und macht es sich gemütlich. „Wissen Se“, fängt er an – ich lege schon mal mein Buch weg. „Ick bin ja gar kein Penner.“ Hab ich auch gar nicht gesagt. „Wissen Se, ick bin jetzt siebzig Jahre alt, wat soll ick machen, ohne Papiere, ohne nix. Mir macht das verdammte Betteln auch keinen Spaß.“ Hab ich mir auch gar nicht gedacht. Würde mir auch keinen Spaß machen. „Wissen Se, wir sind ja hier in Kreuzberg.“ Weiß ich. „Weil, nur in Kreuzberg gibt es noch jute Menschen. Überall anders nicht mehr.“ Ich sage: „Da hab ich ja noch mal Glück gehabt, dass ich hier auch in Kreuzberg sitze und so.“ – „Ja“, antwortet er, „ham Se Glück gehabt. Überhaupt haben alle Glück, außer ich.“ Meine Rede. Geht mir genau so. Ganz genau so.

MARGARETE STOKOWSKI