Immer mit einem Glas Rotwein

KLEINKUNST Er wird „Klavierhelmut“ genannt und spielt seit vier Jahren Piano auf den Straßen in Berlin-Kreuzberg. Er ist ein Produkt des Mauerfalls

VON BARBARA BOLLWAHN

Unerwartetes, Unglaubliches, Absurdes und Verrücktes zu sehen und zu hören ist nicht ungewöhnlich auf den Straßen der Hauptstadt. Aber ein alter Mann, 52 Kilo leicht, der mit gebeugtem Rücken ein 250 Kilo schweres Klavier durch die Gegend schiebt und auf öffentlichen Plätzen Sonaten und Präludien spielt, das ist selbst in Berlin ziemlich abgefahren.

So wie andere Leute ihren Hund Gassi führen, geht der Mann mit seinem Instrument raus, nicht mehrmals am Tag und auch nicht bei Regen, aber mehrmals in der Woche. Seit vier Jahren musiziert er in Kreuzberg und ist dort sehr bekannt. Klavierhelmut wird er genannt. In den Kneipenrunden in seinem Kiez gibt es mehrere Helmuts, und um die auseinanderzuhalten, wurde aus dem Elektriker Helmut „Der elektrische Helmut“, aus dem Helmut mit dem dicken Auto „Mercedeshelmut“ und aus Helmut mit dem Klavier eben „Klavierhelmut“.

Buntes Tüchlein, Kordjacke

Es ist beeindruckend zuzusehen, wie der drahtige Mann das Klavier aus dem Erdgeschoss einer Wohnung, die eine Art Lager ist, auf die Straße bugsiert. Das Instrument steht auf einem Brett mit vier Rollen, oben drauf ist ein Barhocker festgezurrt, über eine Rampe rollt er es in den Hof.

An diesem sonnigen Tag im April verbirgt er sein volles weißes Haar unter einem Strohhut, um den Hals trägt er ein buntes Tüchlein, unter der braunen Kordjacke zwei Hemden, eine dunkle Hose und schwarze Schuhe, die nicht mehr ganz heil sind. Vorsichtig bahnt er sich den Weg zwischen Mülltonnen und Holzbrettern, dann schiebt er das Klavier zwischen Passanten, Kinderwagen und Hunden ein Stück den Gehweg entlang, bis er das holprige Pflaster gegen den glatten Asphalt der Straße tauscht. Entgegen der Fahrtrichtung schiebt er das Klavier auf dem stark befahrenen Kottbusser Damm zwischen parkenden und fahrenden Autos hindurch, stets auf der Hut, nirgendwo anzuecken. Staunende, ungläubige, begeisterte Blicke begleiten ihn und sein Gefährt.

An diesem Tag transportiert Klavierhelmut sein Instrument bis zur „Ankerklause“, einer Kneipe am Landwehrkanal. Er legt ein Stück Holz und den Verschluss des Gurts, mit dem er den Hocker befestigt, unter die Räder, damit das Klavier halbwegs gerade steht. Aus dem unteren Fach holt er seine Requisiten: eine Flasche Rotwein, ein Glas, einen schwarzen Hut, wenn jemand etwas geben will. „Meine schwarze Kasse“, sagt er und lacht, dass eine Zahnlücke zu sehen ist.

Kaum erklingen die ersten Töne, bleiben die Ersten stehen. „Ein Klavier!“, entfährt es einer jungen Frau, wie nach ihr noch vielen anderen Passanten. „Oh“, schwärmt eine andere Frau und lauscht einer Mozartsonate. Würde Klavierhelmut im Takt der klickenden Kameras, Smartphones und Handys spielen, müssten seine Finger über die Tasten fliegen.

In gewisser Weise ist der Fall der Mauer daran schuld, dass es den Mann am Klavier unter freiem Himmel gibt. Bis dahin arbeitete er als Klavierstimmer mit eigener Werkstatt. Nachdem der antifaschistische Schutzwall im Herbst 1989 gefallen war, der Westberlin zur Inselstadt gemacht hatte, die Mieten explodierten, die Konkurrenz zunahm, meldete er Konkurs an und ging mit seiner finnischen Ehefrau in deren Heimat. Dort lebten sie als Selbstversorger in einem Haus im Wald, manchmal war er auch als ambulanter Klavierstimmer unterwegs. Es war eine gute Zeit. Nach drei Jahren waren die letzten Reserven aufgebraucht, er ging zurück nach Deutschland, seine Frau blieb, sie besuchen sich regelmäßig.

Der Neustart in Berlin war holprig. Als er sich bei einem Klaviertransport das Becken brach und auf Krücken gehen musste, setzte er sich mit einem Bandoneon vor U-Bahn-Eingänge. „Ich schämte mich“, erzählt er, „besonders wenn Leute vorbeikamen, die mich als Klavierstimmer kannten“. Bis er die Idee mit dem Klavier hatte. Schon früher war er auf Stadtteil- und anderen Festen mit einem seiner Instrumente unterwegs gewesen. Die Stücke, die er spielt, Mozart, Schubert und Chopin, hat er schon als Jugendlicher gelernt, als er ein Jahr Unterricht hatte und aufs Musikkonservatorium hätte gehen können. Dem stand aber sein zweites Hobby entgegen, das Turnen. „Ich wollte Meister werden und hatte die Hände voller Schwielen.“ Klavier spielte er weiter. „Wenn man einmal anfängt“, sagt er, „kann man nicht mehr aufhören.“ Geht mal ein Ton daneben, stört ihn das nicht so sehr. „Ich bin ja kein studierter Diplompianist“, sagt er und lacht.

Sitzt er an seinem Piano, nimmt er die Menschen um sich herum aufmerksam wahr, wie ein Seismograf. Manche erzählen ihm ihr Leben, sodass er sich wie ein Therapeut vorkommt. Er ist immer diplomatisch, drängt sich nicht in den Vordergrund. „Musik macht das Leben schöner, so wie Literatur und Malerei“, sagt er, „nur empfinden das nicht alle Menschen so.“

Klavierhelmut hat so viel mit seinem Klavier erlebt, dass er auf einem Blatt Papier Stichpunkte zu Geschichten notiert hat, die er nicht vergessen will. Eine heißt „Das automatische Klavier“ und handelt von einer Mutter, die ihrer kleinen Tochter sein Tun so erklärte: „Guck mal, da steht das automatische Klavier, wo der Mann die Performance macht.“ Weil er nicht wollte, dass das Kind das Vertrauen in die Mutter verliert, es aber auch nicht an der Nase herumgeführt werden sollte, drückte er eine Taste und sagte dem Mädchen, dass man auch selbst spielen könne. Einige Wochen später traf er zufällig die Mutter wieder, die ihn sofort erkannte. „Der Mann mit dem automatischen Klavier!“ Übermütig gestand er ihr ganz charmant, dass sie die Erste sei, die gemerkt habe, dass er ein Betrüger sei. Noch heute amüsiert ihn das ungemein.

Er sucht die Plätze, an die er sein Klavier schiebt, gut aus und versucht, gegen keine der Vorschriften, denen er mit seiner Kleinkunst unterliegt, zu verstoßen. Nicht zu nah an Krankenhäusern, Pflegeheimen und Schulen, nicht vor oder unter Wohnungsfenstern, nicht zu laut und nicht zu spät. Doch recht machen kann er es ohnehin nicht allen, selbst wenn er wollte. „Zwei Mütter“ nennt er die Begebenheit, die sich an einem Sommerabend zutrug. Eine aufgeregte Mutter beschwerte sich, dass ihr Kind nicht schlafen könne „bei dem Geklimpere“, und forderte ihn auf aufzuhören. Klavierhelmut tat ihr den Gefallen und genehmigte sich ein Glas Wein. Bis eine andere aufgeregte Mutter angelaufen kam und sich ebenfalls beschwerte – weil ihr Kind nicht schlafen könne, wenn er nicht spiele.

Ein elektrischer Rollstuhl

Zwei Grundsätze beherzigt der Mann mit dem Klavier: „Ich spiele für die, denen es gefällt.“ Und: „Ich spiele grundsätzlich nicht, wenn das Geld knapp ist oder ich Fleisch kaufen will. Dann kriege ich nichts.“ Er braucht nicht viel zum Leben. Seine Wünsche sind „im unteren Bereich“. „Eine neue Kauleiste wäre schön“, sagt er und lacht verlegen. Weil das Geld dafür nicht reicht, arrangiert er sich mit der Lücke wie mit der letzten rechten Taste, die hängt.

Sollte der Transport seines Klaviers irgendwann zu beschwerlich werden, hat er bereits Vorkehrungen getroffen. Der Betreiber eines Sanitätshauses hat ihm vor einiger Zeit einen elektrischen Rollstuhl überlassen. In den will er sich nicht selbst setzen. Auf dem Fahrgestell des Rollstuhls will er sein Klavier transportieren und es per Joystick lenken, wenn die Muskeln und die Lungen nicht mehr mitmachen. Nur weiß er noch nicht, wie er das Geld für die Akkus auftreiben soll, um den Rollstuhl und mit ihm das Klavier zum Laufen zu bringen.

Solange seine Gesundheit mitspielt, er ein Dach über dem Kopf hat und zu essen, das Geld für Wein und Tabak reicht, wird Klavierhelmut sein Instrument durch Kreuzberg schieben. Solange er das kann, macht er sich keine ernsthaften Sorgen.