In einer kleinen Zelle leben

GEOMETRIE DES WOHNENS Der 1993 verstorbene israelische Künstler Absalon erhält in den Kunst-Werken Berlin eine umfassende Werkschau

VON RONALD BERG

Die „Cellules“ in der großen Souterrainhalle der Kunst-Werke sehen aus wie eine Mischung aus Schrebergartenhäuschen, Minibunker und Polarstation. Alle sechs dieser nur rund neun Quadratmeter großen „Zellen“ haben Tür und Fenster, und im Inneren finden sich sogar Küchenzeile, Spülbecken, Bett, Schreibtisch und Nasszelle. Viel Platz gibt es wahrlich nicht.

Das schmale Bett ähnelt eher einer Schiffskoje, das Spülbecken ist winzig, der kleine Kleiderschrank limitiert die Anzahl der Bügel gewaltig, und den Platz am Schreibtisch kann man nur in sitzender Haltung einnehmen. Es scheint so, als habe jemand den alten Slogan der Moderne nach einer „Wohnung für das Existenzminimum“ bis zu dem Punkt getrieben, wo man das Platzangebot nun wirklich nicht mehr reduzieren kann.

Der frühe Tod

Absalon heißt der Künstler, der diese Prototypen einer Minimalstwohnung ersonnen hat. 1964 in Aschdod geboren, nimmt er seinen alttestamentlichen Künstlernamen nach seiner Ankunft 1987 in Paris an. Absalon war der Sohn König Davids, der die Rebellion gegen den Vater mit einem frühen Tod bezahlen muss. Auch dem Schöpfer der „Cellules“ war kein langes Leben vergönnt. Er starb 1993 mit 28 Jahren. An Aids, wie es heißt.

Die Kunst-Werke richten dem in Deutschland wenig bekannten Künstler jetzt eine umfassende Werkschau aus. Die rein weiß gestrichenen Prototypen aus Holz und Karton sind schon Endpunkt der Entwicklung. Ihre aus geometrischen Elementen wie Kreis und Rechteck entwickelten Formen finden sich in früheren Arbeiten vorbereitet, die die Kunst-Werke auf sämtlichen ihrer vier Etagen vorführen. Da entdeckt man etwa jene kleinen „Cellules“ von 1991. Es handelt sich um eine Reihe von offenen Pappkisten, in denen geometrische Formen arrangiert sind. Ganz augenfällig erinnern sie an Wohnungseinrichtungen in Modellform. Der Pappkarton liefert das Zimmer und die geometrischen Formen liefern die Möbel, nur dass auch hier zwischen den Möbeln kaum Platz bleibt. Absalons Formenvokabular kann man noch in größerem Maßstab auf anderen Etagen der Kunst-Werke studieren. Dann wird ihre Abkunft von Möbelstücken noch augenfälliger. Oft sieht es so aus, als ob Couch oder Tisch unter geometrischen Grundformen verschwunden wären.

Bekanntlich war das aber genau das Programm der klassischen Moderne: die Reduktion von Gebrauchsdingen auf schnörkellose, geometrische Grundformen. Absalons Nähe zur Moderne ist auch deshalb offensichtlich, weil sämtliche seiner Arbeiten in reinem Weiß erstrahlen. Ob klein oder groß, zu allen „Cellules“ gehören stets Neonröhren, die die Gebilde von oben bescheinen und die Plastizität der kubischen Formen erst richtig zur Geltung bringen.

Man könnte die „Cellules“ so auch für Abbilder moderner Architektur im Sonnenlicht halten. Absalon wird derartige Anblicke während seiner Jugend erlebt haben. Die „weiße Stadt“ Tel Aviv mit ihrer weltweit einzigartigen Fülle von 4.000 Gebäuden im Bauhausstil liegt nur gut 30 Kilometer von Absalons Heimatort entfernt. Es überrascht in diesem Zusammenhang auch nicht, wenn man erfährt, dass Absalon später in Frankreich ein von Le Corbusier gebautes Atelierhaus in Boulogne bei Paris bezog. Man kann Absalons gesamtes Werk als Auseinandersetzung und Paraphrase von Le Corbusier begreifen. Corbusier hatte sich 1952 eine kleine Ferienhütte an der französischen Riviera gebaut, bei der er auf 3,66 × 3,66 Meter alle notwendigen Funktionen einer Wohnzelle vereinte. Absalon wiederholt nun Corbusiers Ansatz, wenngleich mit noch einmal reduziertem Raumangebot. Ähnlich wie bei Corbusiers Maßsystem, dem „Modulor“, bezieht Absalon die Maße seiner Zellen vom menschlichen Körper. Zielte Corbusier aber auf Typisierung im Wohnungsbau, sind Absalons Zellen eine nur auf den eigenen Körper bezogene Maßarbeit.

Hausen wie ein Asket

Absalon wollte übrigens in seinen „Cellules“ wirklich leben. Die insgesamt sechs Prototypen – allesamt in der Ausstellung zu sehen und bis auf einen auch zu betreten – sollten weltweit in sechs Städten wohngerecht verwirklicht werden. Absalon hätte darin gehaust wie ein Asket in einer seltsamen Ambivalenz zwischen baulicher Abkapselung und öffentlicher Präsentation. Das Verhältnis von Kunst und Leben wäre in eine Art topologischer Versuchsanordnung im Stadtraum verwandelt geworden. Das Experiment blieb unrealisiert.

Das Innere von Absalons Zellen, wo die restriktive Raumorganisation das Wohnen buchstäblich in bestimmte Bewegungsabläufe zwängt, wirft noch einmal Grundfragen der Moderne auf: Wie viel (auch gebaute) Freiheit ist nötig? Wie vereinbaren sich Individualität und Normierung? Oder auch: Helfen Beschränkungen, um sich nicht im Grenzenlosen, Massenhaften und Uniformen zu verlieren?

■ Bis 20. Februar 2011, KW Institute for Contemporary Art, Berlin