: Die fotogene Armut
Urlaub in der Dominikanischen Republik, all inclusive und mit überquellenden Büfetts. Doch manchmal geht es hinaus ins feindliche Leben: mit einer Reisegruppe bei den Haitianern
VON HANS-ULRICH DILLMANN
Schatten von Palmen huschen am Fenster vorbei. Mit 90 Stundenkilometern jagt der Minibus über die schlaglochreiche Straße von Sosúa kommend Richtung haitianische Grenze.
Ein Deutscher und neun polnische Touristen nehmen schemenhaft in der Morgendämmerung wahr, wie Männer vor einer Fritteuse stehen und Fettgebackenes zum Frühstück essen, halbnackte Kinder mit ihrer Nuckelflasche auf der Türschwelle sitzen und dem Touristenbus staunend hinterherstarren. „Die Menschen in Haiti sind viel ärmer. Ihr werdet es ja sehen“, sagt Reiseleiter Maurice auf Englisch und Deutsch.
In Tilory, dem winzigen haitianischen Weiler, gerade mal einen Kilometer hinter den Grenzposten, ist Markttag. Aus den umliegenden Dörfern sind Bäuerinnen gekommen, um ihre karge Ernte zu verkaufen und dafür Produkte zu erwerben, die man nur mit Geld kaufen kann: Öl, Reinigungs- und Waschmittel. Auf einem riesigen Haufen werden Altkleider angeboten. Auf einer Plastikdecke sind jeweils drei Limetten zu einer Handelseinheit aufgestapelt. 10 Gourdes, 20 Cent will die junge Frau dafür haben, „Blanc, Weißer, kauf es doch, es ist billig“, ruft sie.
Die Objektivverschlüsse klicken. In der einen Hand die Digitalkamera, in der anderen das Digitalvideogerät. Zuerst wird das Objektiv auf die Frauen gerichtet, die auf dem Boden hocken und ihre spärliche Handelsware anpreisen, dann wird auf den Abfallhaufen gezoomt, der in knapp drei Metern Entfernung faulig vor sich hin stinkt.
Inzwischen hat sich eine dicke Traube von Kindern um die zehn Besucher gebildet. „Gib mir einen Dollar, ich habe Hunger“, bettelt eine etwa Achtjährige mit traurigen Augen und reibt sich den Bauch. Eine andere hat es mit flehenden Worten auf den Kugelschreiber in der Brusttasche abgesehen. Da trifft auf der Suche nach einem authentischen Bild von den „armen Menschen in Haiti“ auch schon der zweite Touristenbus ein. Davor haben sich, obwohl die Tür noch nicht geöffnet ist, schon drei Dutzend Kinder mit offenen Handflächen postiert.
Madame Lourdes hat sich vor der Tür ihrer Hütte aus Lehmwänden mit ihrer Tochter postiert. Das Dach ist aus löchrigem Zink. Unauffällig stecken die Besucher der Eigentümerin der vielleicht 15 Quadratmeter großen Armutshütte ein paar Geldscheine in die Hand, nachdem sie die beiden Zimmer aus unmittelbarer Nähe besichtigt haben. Beeindruckt von der Enge lassen sie sich von den Mitreisenden auf der Türschwelle gemeinsam mit Madame Lourdes ablichten.
Die Gruppe muss weiter, schließlich warten noch zwei Männer mit einem kleinen Hahnenkampf auf die Reisegruppe. „Keine Sorgen, den Tieren passiert nichts“, beruhigt Maurice die Ersten, die sich angewidert abdrehen wollen und dann doch zur Kamera greifen, um die aufeinander einpickenden Hähne abzulichten. Von hinten rückt schon die zweite Gruppe nach.
In der kleinen Grundschule, die von den Reiseveranstaltern nach eigenen Aussagen finanziell gefördert wird – eine entsprechende Plakette ist am Eingang angebracht –, stehen die Schülerinnen und Schüler wie kleine Soldaten schon stramm. Vor sich jeweils eine blaue Plastikschale mit Reis und Bohnen, bei allen ist der Löffel in die gleiche Richtung ausgerichtet. Die Besucher sind da, die Kinder dürfen essen. Die Blitzlichter zucken, Kameraschwenks über lachende Gesichter mit strahlenden Kinderaugen. „Wer möchte, kann die Schule mit einer Spende unterstützen. Auch die Erlöse aus dem Verkauf unserer T-Shirts gehen an die Schule“, sagt Maurice.
Sammeln für den Höhepunkt des bis dahin zweistündigen Aufenthalts im Grenzort: In der Mitte des Platzes ist ein Voodoo-Ornament mit Reis und Farbpulver gezeichnet worden. Nur der darin stehende Name „Lucifer“ findet sich nicht im Götter-Pantheon des Voodoo. Joe de Busse, der Hauptdarsteller der „Voodoo-Show“, isst Glas und lässt sich dabei in Großformat von der polnischen „DomRep“-Besucherin Paulina mit offenem Mund und Glassplitter auf der Zunge ablichten; Joe malträtiert seinen ausgemergelten Körper mit lodernden Flammen und wiederholt es so lange, bis alle die Präsentation auf ihrem Chip abgespeichert haben. Joe wälzt sich im Feuer, bis sich unter den spitzen Schreien des vornehmlich weiblichen Publikums die Flammen zwischen seinen Beinen durchschlagen. Pikiert schauen nur die Männer drein.
Dann geht die Sammelbüchse rum. Paulina reicht noch zwei Sandwichs aus dem Fenster. Monika und Hanna aus Warschau sind zufrieden. „Wir haben was von beiden Ländern mitbekommen“, sagt Hanna. Ein Mädchen ruft in das halboffene Fenster: „Nur die anderen haben was bekommen. Ich hab auch Hunger.“