Hohe Erwartungen an den Gast aus Moskau

STAATSBESUCH In Polen will Präsident Medwedjew ein neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen öffnen

WARSCHAU taz | Seit Tagen fiebert ganz Polen dem heutigen Besuch des russischen Präsidenten Dmitri Medwedjews entgegen. Acht Jahre ist es her, dass ein Präsident Russlands Polen einen offiziellen Staatsbesuch abstattete. Moskau konnte sich lange mit der wiedergewonnenen Souveränität des einstigen Satellitenstaates nicht abfinden und behandelte Polen wie ein nicht ernst zu nehmendes EU- und Nato-Mitglied. Warschau prangerte russische Geschichtslügen an und forderte sogar EU und Nato auf, Russland für seine Fleisch- und Gasblockaden sowie den Krieg in Georgien zu bestrafen. Damit soll nun Schluss sein. Russland ist auf Westkurs, und Polen will sich mit den schwierigen Nachbarn aussöhnen.

Die Erwartungen sind hoch. Was wird Medwedjew mitbringen? Die letzten noch fehlenden 4.000 Namen von polnischen Opfern des Massenmordes in Katyn? Kurz nach dem deutsch-sowjetischen Einmarsch nach Polen im September 1939 erschoss der sowjetische Geheimdienst auf Befehl Stalins über 22.000 polnische Offiziere und Intellektuelle. Jahrzehntelang leugnete Moskau das Verbrechen. Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, gab 1990 offiziell die Wahrheit zu. Vier Jahre später bat Russlands Präsident Boris Jelzin die Polen um Vergebung. 1995 schlossen sich die Archive wieder.

Zwar gedachten Donald Tusk und Wladimir Putin, die Regierungschefs von Polen und Russland, am 7. April dieses Jahres gemeinsam der Ermordeten im Wald von Katyn, doch drei Tage später stürzte das polnische Präsidentenflugzeug im westrussischen Smolensk ab. Lech Kaczyński, der damalige Präsident Polens, und 95 weitere hohe Staatsbeamte starben auf dem Weg zur Gedenkstätte in Katyn.

Moskau tat alles, um die Ermittlungen zum Absturz rasch und professionell voranzutreiben. Die Gefahr eines neuen Kalten Krieges drohte. Zur besten Sendezeit wurde Andrzej Wajdas Film über das Massaker von Katyn ausgestrahlt. Das spontane Mitgefühl vieler Russen mit den Polen löste an der Weichsel das Gefühl aus, dass vielleicht doch die Zeit für eine Versöhnung gekommen sei. Als vor einigen Tagen die Staatsduma das Massaker in Katyn und die anderen Morde mit großer Mehrheit als stalinistische Verbrechen verdammte, wurde das als weiteres positives Zeichen gewertet.

Dennoch ist unübersehbar, dass Russland auf Polen zugeht. Der Nachbar beeindruckt auch durch seinen zunehmenden Einfluss in der internationalen Politik. Russland kommt an Polen nicht mehr vorbei, wenn es enger mit EU und Nato zusammenarbeiten will. Die Delegation, die Russlands Präsidenten begleitet, ist hochrangig. Auch Alexander Aleksiejew, Russlands Botschafter in Warschau, sagt ganz klar: „Dieser Besuch soll ein neues Kapitel in den polnisch-russischen Beziehungen aufschlagen.“

GABRIELE LESSER