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Archiv-Artikel

Herden, Schwärme und Einzelgänger

FLORA & FAUNA Müssten Tiere und Pflanzen ihre Ein- und Ausreise genehmigen lassen, gäbe es in Deutschland weder Kastanienbäume noch Meerschweinchen

VON CORD RIECHELMANN

Migrationen sind im Tierreich keine Seltenheit. Tiere, die wie Vögel, Fledermäuse und Insekten frei fliegen können, sind schon durch ihre körperlichen Fähigkeiten auf weite Wanderungen vorbereitet. Und wer fliegen kann, ist in der Lage, Hindernisse wie Gebirgsketten und Meere zu überwinden. Vögel tun das regelmäßig. Enten, Gänse und einige kleinere Singvögel überqueren jedes Jahr auf dem Hin- und Rückflug das Himalajagebirge in Jethöhe und Fischer berichten, dass sie Odinshühnchen in kleinen Gruppen mitten auf dem Pazifik antreffen.

Die zu den arktischen Schnepfenvögeln zählenden Odinshühnchen legen von ihren Brutgebieten in der subarktischen Tundra bis zu ihren Winterquartieren an der Pazifikküste 6.000 Kilometer zurück – wie alle Zugvögel im jährlichen Rhythmus. In den mittleren Breiten Europas, Nordamerikas und Asiens lässt sich dieses Schauspiel jedes Jahr im Herbst und Frühling beobachten. Brutvögel zieht es aus dem Norden in den Süden und wieder zurück.

Man hatte aus dieser Tatsache jahrhundertelang den Schluss gezogen, dass die Vögel des Nordens und kalten Südens Zugvögel seien, und die Vögel der Tropen Standvögel, die es schon deshalb nicht nötig haben zu wandern, weil es das ganze Jahr warm und immer ausreichend Nahrung vorhanden ist. Das erwies sich aber als Trugschluss. Bei genauerem Hinsehen wanderten auch die Vögel in den tropischen Regenwäldern, nur war das den Blicken der Ornithologen, die in der Regel aus westlichen Ländern kamen und kommen, verborgen geblieben. Mit den in den Tropen wandernden Vögeln kam aber auch ein Aspekt der tierischen Migrationen in den Blick, der nicht unbedingt an Nahrung und Brutplätze gebunden ist. Manche Vögel ziehen einfach aus Spaß, aus Lust am Fliegen.

Freiwillige Flugshow

In einer besonders eindrucksvollen Form lässt sich das zurzeit auch in europäischen Großstädten wie Rom, London oder Berlin beobachten. Dort versammeln sich im Herbst und Winter an dafür geeigneten Plätzen mit dem schwindenden Tageslicht tausende von Staren am Himmel.

In Wellen auf- und abfliegend bieten sie jeden Abend etwa eine halbe Stunde lang Flugspiele. Dafür kommen sie aus allen Richtungen zusammen und trennen sich irgendwann wieder, um in ihre Nist- und Jungenaufzuchtsgebiete zurückzukehren. Trotzdem bleibt die Suche nach dem besten Nahrungsplatz der Hauptgrund der Migrationen.

Die im jahreszeitlichen Rhythmus wechselnden Nahrungsangebote sind auch der Anlass für die größte Wanderung von großen Landsäugetieren. Etwa 1,3 Millionen Gnus sind in der Serengeti ständig in Bewegung. Die Tiere stören sich nicht daran, dicht gedrängt in riesigen Herden zu leben. Hervorragend angepasst, weiden sie das Gras in einer bestimmten Gegend bis zum Kahlfraß, um dann weiterzuziehen – in kleineren Herden oder als Millionenheer. Wenn die südliche Serengeti im Juli austrocknet, die Wasserstellen versiegen und das Gras verdörrt, ziehen die Tiere als riesige Herde in den Norden, um frisches Gras und Wasser zu suchen. Dabei sind sie zäh genug, auch längere Strecken ohne Futter zurücklegen zu können.

Man kann die Gnuherden als ein ständig in Bewegung befindliches Migrationssystem betrachten, das nicht einmal durch die Geburtsperiode aufgehalten wird. Die neugeborenen Kälber müssen sofort nach der Geburt in der Lage sein, der Mutter zu folgen und sich in den Migrationsstrom einzureihen.

Es gibt aber nicht nur aktiv von Tieren vollzogene Bewegungen. Mit den im Zuge des europäischen Kolonialismus nach Asien, Afrika und Südamerika wandernden Händlern und Naturforschern etablierte sich eine weitere Form der Migration: die Verschleppung von Pflanzen und Tieren. Das sprechendste Beispiel sind Meerschweinchen. Weil die kleinen Nagetiere quiekten wie Schweine, gab man ihnen, als die Spanier sie aus Südamerika nach Europa gebracht hatten, ihren Namen: Schweine, die übers Meer gekommen waren.

Der Holzsklave

Es gibt solche Verschleppungen aber natürlich auch in umgekehrter Richtung. Auf Curaçao, einer Insel der niederländischen Antillen in der Karibik, heißt der häufigste Gecko „Wood Slave“.

Der Sklave, der mit dem Holz kam, ist der populäre Name für den Gecko Hemidactylus mabouia, der bei uns als Afrikanischer Gecko bekannt ist. Ursprünglich beheimatet südlich der Sahara, folgt seine Ausbreitung seit dem frühen 18. Jahrhundert dem Weg, den die europäischen Sklavenhändler über Brasilien in die Karibik nahmen, um ihre „Ware“ aus Afrika nach Amerika zu bringen. Der kleine Gecko ist heute in fast allen Häusern Curaçaos die häufigste Art. In der Neuen Welt ist er ein reiner Kulturfolger und lebt fast ausschließlich in Häusern. Manchmal aber zieht es ihn auch in Gärten. Als fremd wird er in der Karibik nicht empfunden und verfolgt wird er auch nicht, weil er ein äußerst effektiver Fliegen- und Mückenfänger ist.

Ähnlich geht es bei uns einem pflanzlichen Migranten: der Rosskastanie. Nur ist bei ihr nicht die Nützlichkeit der Grund der Akzeptanz gewesen, sondern ihre Schönheit. Dass die gemeine Rosskastanie im 16. Jahrhundert aus ihren Ursprungsgebieten in Kleinasien und den Bergwäldern des südlichen Balkans nach Mitteleuropa eingeführt wurde, wird einhellig ihrer Blütenpracht zugeschrieben. Dass der Baum sich dabei entlang der Postkutschenwege ausbreitete, soll auch der Grund für das Ross in ihrem Namen sein. Als Schattenspender in den Biergärten von München oder Berlin wurde sie erst sehr viel später entdeckt.

Um pflanzliche und tierische Migrationen zu beurteilen, gilt zweierlei: Migrationen sind nicht an die Fähigkeit eigener, selbstständiger Fortpflanzung gebunden. Pflanzensamen können vom Wind verweht, von Tieren über ihren Verdauungstrakt in andere Regionen getragen oder von Menschen verpflanzt werden.

Berliner Hinterhöfe

Der andere und wichtigere Aspekt ist der, dass aus Migrationen folgende Ansiedlungen in „fremden Gegenden“ nicht an sich schlecht sind. Tiere müssen nicht unbedingt sogenannte einheimische Arten verdrängen, was das Beispiel Wood Slave zeigt, und Pflanzen müssen nicht andere Baumarten verdrängen. Vor allem dann nicht, wenn sie in Räumen wie Berliner Hinterhöfen gut gedeihen, wo vorher nichts war.

Damit kommt ein dritter, besonders für Mitteleuropa wichtiger Punkt ins Spiel: Es lässt sich für manche Gegenden überhaupt nicht sagen, was seit wann heimisch ist beziehungsweise immer schon da war. Die Artenvielfalt Mitteleuropas besteht im Wesentlichen aus Migranten. „Würde man alle Arten daraus entfernen können, die in den Jahrtausenden der Kultivierung durch den Menschen hierhergekommen sind, bliebe kaum noch die Hälfte übrig“, schreibt der Ökologe Joseph H. Reichholf. Die Sortenverluste wären katastrophal. Fast alle Orchideen müssten verschwinden, ebenso viele Wiesenkräuter und natürlich auch die Kastanie.

Cord Riechelmann, 50, ist Biologe und Philosoph