Die Frau von früher
Mit „So long, Marianne“ verabschiedete sich Leonard Cohen vor fast 50 Jahren von seiner Muse. Heute ist sie 71 – und wieder aufgetaucht
VON NOEL RADEMACHER
Gardinen werden aufgezogen. Eine Frau mit schwergehendem Atem sagt auf Norwegisch: „Det er veldig stille pa havet i dag“ („Es ist sehr ruhig auf dem Meer heute“). Leonard Cohen beginnt zu singen: „Come over to the window, little darling. I’d like to read your palm.“ Es sind die ersten Zeilen seines Lieds „So long, Marianne“. Die Frau seufzt und singt beim Refrain leise mit.
So beginnt ein außergewöhnliches Radio-Feature der norwegischen Journalistin Kari Hesthamar, das kürzlich beim Prix Europa in Berlin ausgezeichnet wurde. Es ist das anrührende Porträt der 71 Jahre alten Marianne Ihlen, die in ihrem Haus am Strand von Larkollen bei Oslo lebt. Sie ist es, für die Leonard Cohen vor vierzig Jahren seinen weltberühmten Abschiedssong schrieb. Bislang hatte Marianne Ihlen sämtliche Journalisten abgewimmelt, die ihre Geschichte hören wollten.
Für Kari Hesthamar, eine 35 Jahre alte Feature-Autorin vom norwegischen Rundfunksender NRK, hat sie eine Ausnahme gemacht. „Ich wusste, dass Cohen ‚So long, Marianne‘ für eine Norwegerin geschrieben hatte“, erzählt Hesthamar. „Irgendwann begann ich mich zu fragen: Wer ist sie, wie war diese Geschichte damals, was macht sie heute? Also begann ich zu googeln.“ Aber auch im Internet gab es nur wenige Informationen über die „norwegische Muse“ Cohens. Zumindest fand Hesthamar heraus, dass dieselbe Marianne einst auch mit dem in Norwegen sehr bekannten Schriftsteller Axel Jensen verheiratet gewesen war. Und dass ihr Nachname Ihlen lautet. Also schlug sie im Telefonbuch nach, fand eine Marianne Ihlen in Larkollen und rief sie einfach an: „Wir hatten ein sehr schönes Gespräch am Telefon“, erzählt die Autorin. „Ich schickte ihr einige meiner Arbeiten für den Rundfunk, die ihr gefielen, und so verabredeten wir uns.
Die Geschichte, die Marianne zu erzählen hat, ist fast ein halbes Jahrhundert her: Sie begann an einem sonnigen Frühlingstag im Mai 1960 in einem kleinen Lebensmittelladen auf der griechischen Insel Hydra: „Ich stand dort mit meinem Einkaufskorb, um Milch und Wasser in Flaschen zu holen“, erinnert sich Marianne. „Und er steht in der Tür mit der Sonne im Rücken, so dass ich sein Gesicht nicht sehen kann, sondern nur die Umrisse. Ich höre ihn sagen: ‚Would you like to join us? We’re sitting outside.‘ Ich beende meinen Einkauf, gehe raus und setze mich zu ihm und ein paar anderen Leuten an den Tisch.“ Marianne war damals 22 Jahre alt und lebte seit zwei Jahren auf Hydra. Ihr damaliger Mann Axel Jensen hatte sie wegen einer neuen Liebe gerade mit dem gemeinsamen, vier Monate alten Sohn Lille-Axel auf der Insel zurückgelassen. „Ich fühlte mich damals, als sei ich in zehntausend kleine Stücke zersprungen, die nur durch ein Klebeband zusammengehalten werden“, erzählt sie.
Der Kanadier Leonard Cohen, damals noch ein weitgehend unbekannter Dichter auf Europareise, erwies sich als tröstender Freund. Er beschloss, auf Hydra sein zweites Buch zu schreiben und kümmerte sich nebenbei liebevoll um sie und ihren kleinen Sohn. „Meine Annäherung an Leonard erfolgte im Zeitlupentempo“, sagt Marianne. „Wenn er nicht so geduldig mit mir gewesen wäre – ich weiß nicht, ob wir jemals zusammengekommen wären.“ Als sie sich entschloss, nach Norwegen zurückzukehren, fuhr Cohen sie den ganzen Weg von Athen bis Oslo mit dem Auto. „Das war der Moment, als es bei mir Klick machte. Ich verstand, dass dies mehr war als Freundschaft.“
Nach einem einsamen Jahr in Norwegen, so Marianne, habe sie eines Tages folgendes Telegram aus Montreal erhalten: „Have house. All I need is my woman and her son. Leonard.“ Inzwischen von ihrem Mann geschieden, entschloss sie sich, dem Ruf ihres hartnäckigen kanadischen Verehrers zu folgen. Die nächsten fünf Jahre lebten Marianne, Leonard und Lille-Axel wie eine Familie zusammen – die meiste Zeit auf Hydra, wo sich Cohen von der Erbschaft seiner Großmutter inzwischen ein kleines Haus gekauft hatte. „Diese Jahre waren wirklich wunderschön“, erinnert sich Marianne. „Wir waren die ganze Zeit in der Sonne, wir spielten, wir tranken, wir diskutierten. Es wurde geschrieben, wir liebten uns … – es war absolut fabelhaft. Ich glaube, ich habe fast die ganzen fünf Jahre lang keine Schuhe getragen.“
Aus dieser Zeit stammt auch das berühmte Foto, das Leonard Cohen Jahre später auf die Rückseite seiner zweiten Platte „Songs From A Room“ drucken ließ: Marianne, den Körper nur in ein Laken gehüllt, sitzt in einem weißen griechischen Zimmer an Cohens Schreibmaschine und lächelt scheu und zugleich verführerisch in die Kamera. Auch für Leonard Cohen gehörte diese Zeit zu den kreativsten Perioden überhaupt. Er veröffentlichte fünf Bücher: zwei Romane und drei Gedichtbände. Eins davon, „Flowers for Hitler“, hat er Marianne gewidmet.
Doch Leonard Cohen kehrte der Insel zunehmend den Rücken – und damit auch Marianne. Sein wachsender Erfolg als Schriftsteller brachte es mit sich, dass er viel zwischen Montreal und New York hin und her pendelte, während sie allein auf Hydra zurückblieb. „Er war auf der Suche nach neuer Inspiration“, sagt Marianne rückblickend. „Er drückte es so aus: ‚It’s time for me to become a little more miserable again.‘“ Es war die Zeit, in der Cohen im berüchtigten Chelsea Hotel in New York abstieg, Leute wie Andy Warhol und Nico kennenlernte und sich dazu entschloss, eine zweite Karriere als Sänger aufzunehmen.
Marianne erinnert sich, dass Leonard in dieser Zeit schon manchmal jenen Song sang, der später zum Abschiedslied für sie werden sollte: „Am Anfang sang er noch: ‚Come on, Marianne‘. Das war als eine Aufforderung zur Veränderung gemeint.“ Nach einer langen, sehr schmerzhaften Zeit zogen sie beide die Konsequenz und trennten sich – im Guten, wie Marianne heute sagt: „Diese Beziehung war ein Geschenk für mich. Und auch für Leonard, möchte ich hinzufügen, um mich nicht völlig zu unterschätzen. Ich glaube, sie war für uns beide eine Art Schlüssel für das weitere Leben – ob nun im guten oder im schlechten Sinne.“
Mariannes Erinnerungen werden in dem Radiofeature so einfühlsam mit den dazu passenden Songs von Leonard Cohen verwoben, dass sich ein kleines Zwiegespräch zwischen den Liebhabern von einst zu entwickeln scheint. Man bekommt den Eindruck, dass zwischen den beiden noch immer ein unsichtbares Band besteht. „Ich hatte einen sehr seltsamen Traum in der letzten Nacht“, erzählt Marianne. „Leonard kam zu mir und sagte: ‚Marianne, you must not talk so much.‘ Und hier sitze ich, schaue dich an und rede, rede, rede …“
Aber der Autorin Kari Hesthamar ist es nicht nur gelungen, Marianne zum Reden zu bringen. „Im Anschluss kam mir der Gedanke, auch Leonard Cohen nach einem Interview zu fragen“, erzählt Hesthamar. „Ich schrieb ihm eine E-Mail – und er antwortete gleich am nächsten Tag.“ Aus dem ursprünglichen Gesprächstermin an einem Donnerstag um elf Uhr wurde schließlich ein dreitägiger Besuch in seinem Haus in Los Angeles, bei dem Hesthamar einen Einblick in Cohens Leben als alter Mann im Kreise seiner Freunde und Kinder bekam.
Sie entschied sich, ein zweites Feature daraus zu machen, welches das erste auf wunderbare Weise ergänzt: Während Marianne in ihrem Haus in Larkollen ein unveröffentlichtes Gedicht vorliest, das Cohen für sie geschrieben hat, öffnet dieser in Los Angeles eine Flasche Rotwein mit einem Korkenzieher, den ihm einst Marianne geschenkt hat. Und während sie sich sehr detailliert an einzelne Begebenheiten erinnert, an Farben und Gerüche, erzählt Cohen eher resümierend und reflektiert die Vergangenheit allgemeiner. „Sie haben ganz unterschiedliche Dinge erzählt“, sagt Kari Hesthamar. Aber gleichzeitig seien sie sich auch sehr ähnlich: „Marianne und Leonard waren beide unwahrscheinlich gastfreundlich und nett zu mir. Sie gehören beide zu der Sorte Mensch, mit dem man gerne zusammen ist, bei dem man sich wohl fühlt.“
Am Schluss wird deutlich, dass die beiden Liebenden von einst noch immer eine Art Seelenverwandtschaft verbindet, auch wenn sie viele tausend Kilometer voneinander entfernt leben und sich jahrelang nicht mehr begegnet sind. „Man trägt die Vergangenheit in seinem Körper“, sagt Marianne. „Er ist es, der sich erinnert an Momente der Freude und des Schmerzes.“ Und Leonard Cohen schreibt in seinem Gedicht für sie: „Marianne and the child / The days of kindness / I haven’t forgotten / It lives in my spine.“