LESERINNENBRIEFE :
Der Mann hat wenig Ahnung
■ betr.: „Linke Lebenslügen“, Deutschland-taz vom 7. 12. 10
Der Beitrag von Norbert Bolz ist an Ignoranz kaum zu überbieten. In Ansätzen hat der Autor durchaus nicht unrecht, aber als ich über diese Ansätze hinaus gelesen hatte, musste ich leider feststellen: Der Mann hat wenig Ahnung von der Lebenswirklichkeit in Deutschland lebender Migranten.
1. Der „Mythos der Ausländerfeindlichkeit“ ist leider kein Mythos, sondern trauriger Alltag und beschränkt sich bei weitem nicht auf den Bereich „Glatzen, Springerstiefel und Kampfhunde“. Dazu kann man Menschen befragen, die seit Jahrzehnten hier leben, fließend Deutsch sprechen und dennoch auf Ämtern und in der Straßenbahn regelmäßig diskriminiert und als nicht dazugehörig abgestempelt werden. Zur Ausländerfeindlichkeit gehört auch, dass türkischstämmige Bewerber sehr häufig den Kürzeren ziehen gegenüber deutschstämmigen – trotz gleicher Eignung und trotz hervorragender Deutschkenntnisse.
2. lohnt ein Blick nach England: Viele indisch- oder afrikanischstämmige Menschen identifizieren sich mit der britischen Gesellschaft, und das nicht, weil die britische Leitkultur so hoch gehalten würde, sondern weil dort viel stärker als bei uns das Motto „leben und leben lassen“ gilt. In England werben die meisten Städte und Unternehmen auf ihren Webseiten sogar voller Stolz mit der ethnischen Vielfalt der Einwohner- bzw. Belegschaft. Diese Offenheit gegenüber Vielfalt ist es, die zu Identifikation führt, und nicht eine herbeikonstruierte Leitkultur.
3. In Deutschland werden soziale Probleme nach wie vor ethnisiert. Es ist so schön einfach, mit dem Finger auf die angeblich integrationsunwilligen Türken zu zeigen. Weitaus schwieriger ist es, unser höchst selektives Bildungssystem zu reformieren. Genau das wäre aber angebracht. JAN SCHWAB, Freiburg
Ja, ja, wir sorgen für uns selbst
■ betr.: „Es war ein langer und lauter Furz“,Deutschland-taz vom 7. 12. 10
„Deshalb müssen wir das Prinzip aufrechterhalten, dass jedes Land, jede Region für seine bzw. ihre eigene Bevölkerung selber sorgt“, sagt Herr Sarrazin.
Ja, ja, wir sorgen für uns selber, indem wir unseren problematischen Müll nach Westafrika „entsorgen“ und mit unserer Milch-Überschussproduktion auf afrikanischen Märkten die heimischen Erzeuger mit Dumpingpreisen in die Knie zwingen. Die Liste ließe sich erheblich erweitern: z. B. Bodenschätze, Verdrängung afrikanischer Bauern durch Konzernaktivitäten etc. Aus wie vielen Entwicklungsländern transportieren wir Bodenschätze und Rohstoffe ab, ohne dass ein angemessener Anteil bei der einheimischen Bevölkerung ankommt. Wenn vom Erlös etwas im Lande bleibt, dann in den Taschen korrupter „Eliten“. Die Fertigprodukte aus der Rohstoffveredelung sind für die Menschen vor Ort nicht bezahlbar. Das ist Kolonialismus mit anderen Mitteln oder, wie Politiker behaupten, Globalisierung. Das alles entspricht offenbar unseren Wertvorstellungen und ist kompatibel zu der Leitkultur – es ist zum Kotzen. Wie kämen wir dazu, die, die wir arm gemacht haben, in unser Land zu lassen.
WOLF-DIETER SONNENBURG, Dortmund
Ein ausländischer Mischmasch
■ betr.: „Die Atmosphäre ist total vergiftet“,Deutschland-taz vom 7. 12. 10
Sehr geehrte Frau Steinbach, zu Ihrem Gespräch in der taz habe ich eine kleine Nachfrage.
Ich bin Komponist, meine musikalischen Säulenheiligen – Sie würden es „Leitkultur“ nennen – sind Chopin (Pole), Puccini (Italiener), Charles Ives (US-Amerikaner), Sibelius (Finne), Ravel (Franzose), Rachmaninoff (Russe), Bartok (Ungar), Richard Wagner (Sachse, aber wg. finanzieller und politischer Umtriebe viel auf der Flucht, auch im Ausland), Manuel de Falla (Spanier), Bruckner (Österreicher). Außerdem, wo ich schon mal dabei bin, kann ich Ihnen das ja auch noch sagen, stehe ich auf Amy Winehouse und Lady Gaga. Also alles ein ziemlich ausländischer Mischmasch, keiner Ihrer Leitkulturträger (Brahms, Beethoven, Mendelssohn) ist dabei. Auch sonst haut das mit der Leitkultur bei mir überhaupt nicht hin.
Ich wohne aber schon seit langem in Frankfurt. Ist das, liebe Frau Steinbach, trotzdem o. k. für Sie oder sollte ich doch lieber Deutschland endlich verlassen? ROLF RIEHM, Frankfurt am Main
Sind die Leute intolerant?
■ betr.: „Ist das Kind nicht total verwirrt?“, taz vom 8. 12. 10
Es kommt häufiger vor, was in dem Bericht von Nina Coon geschildert wird. Überall herrscht irgendwie die gleiche Meinung. Wenn man eine andere Meinung entwickelt hat, muss man sich überall dafür rechtfertigen und man trifft auf eine immer vernünftige Standardmeinung.
Man sieht an diesem Bericht außerdem wieder, wie in Deutschland Aussortieren und Einordnen sehr früh beginnt. Die Kinder müssen sich doch erst einmal entwickeln können! Ist man in Deutschland zu ängstlich Unbekanntem gegenüber? Sind die Leute intolerant? Haben sie keinen Respekt vor eigenen Ideen?
Ich habe mich über diesen Erlebnisbericht gefreut, da er zeigt, wie schwierig es ist, manchmal eine eigene Meinung zu vertreten. Dabei kommt mir die Frage, wie schwer es Leute mit „Migrationshintergrund“ in unserem oft gesamtgesellschaftlichen Konsens haben. Oder ist diese Frage übertrieben? ELLEN KAKO, Kiel