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Archiv-Artikel

Den Toten näher kommen

Ein Rundgang zum Volkstrauertag: Der Soziologe vermisst demokratisches Gedenken, der Pressesprecher des Friedhofs bietet ein Rosengrab, aber keine gesicherte Zukunft für den Friedhof. Und die Geschäftsführerin des Volksbundes der Kriegsgräberfürsorge freut sich über das Ende der Kranz-Rallye

„Viele alte Leute sind ja schon vor der Beerdigung den sozialen Tod gestorben“

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Am 27. Oktober hält Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung einen Vortrag in Dresden: „Die Wiederkehr der Toten“. Bude beschäftigt sich darin mit der Frage, wie die Deutschen mit den Toten und Ermordeten des „Dritten Reichs“ zurande kommen. Bude glaubt, dass es dabei drei Möglichkeiten gebe: Das Verschweigen, das „hysterische Bemühen, für die Toten zu sprechen“ und das Rechnen mit der „unvermuteten Wiederkehr der Toten“. Bude sagt, dass es eine „Gesellschaft mit den Toten“ geben könne und beruft sich auf den Schriftsteller W.G. Sebald, der über Menschen geschrieben hat, deren Leben auseinander fällt, weil ihre Toten sie nicht verlassen. Es sind traurige und eigenartige Bücher, die in einer so verschachtelten Sprache geschrieben sind, dass man sie nur sehr langsam lesen kann.

In einem Roman geht es um einen älteren Mann namens Austerlitz, der durch Zufall erfährt, dass er adoptiert wurde und seine leiblichen Eltern Juden waren. Ein Schuster hat dem Kind Austerlitz einmal von den Toten erzählt, die ins Leben zurückkehren wollten, weil der Tod sie zur Unzeit getroffen habe. Diese Toten sähen aus wie normale Leute und zögen durchs Dorf. Bei Sebald heißt es: „Fast immer gingen die Toten alleine, doch zögen sie manchmal auch in kleinen Schwadronen herum; in bunte Uniformrücken oder in graue Umhänge gehüllt habe man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort.“

Heinz Bude, der Foucault ein wenig ähnelt, sagt, dass das nationale Totengedenken durch die Nationalsozialisten pervertiert worden sei und die Bundesrepublik keine neue Form gefunden habe. Und er sagt, dass er nicht in einer Gesellschaft leben wolle, die ihre Toten vergesse.

Nach dem Vortrag steht ein junger Mann auf und sagt, dass man 1945 doch die Namen der Gefallenen in die Soldatendenkmäler des 1. Weltkriegs eingetragen habe und dass es doch den Volkstrauertag gebe. Aber er bekommt keine rechte Antwort.

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„Die Frage, was man mit den Toten der Bundeswehreinsätze macht, wird noch erfolgreich verdrängt“, sagt der Lutz Rehkopf, der Pressesprecher der Hamburger Friedhöfe. „Aber sie rückt uns näher auf den Pelz.“ Sein Büro hat er in der Friedhofsverwaltung auf dem Friedhof Ohlsdorf. Der ist der Fläche nach der größte Friedhof Europas, auf dem bislang 1,4 Millionen Menschen beigesetzt wurden und wenn Lutz Rehkopf aus seinem Fenster schaut, sieht er die Linienbusse, die mehrere Haltestellen brauchen, bis sie den Friedhof wieder verlassen. Lutz Rehkopf spricht sehr sachlich über die Zukunft des Friedhofs als allgemeiner Ort, als eine Art Treffpunkt der Toten und ihrer Nachkommen. „Der traditionelle Friedhof steht zur Disposition.“ Nicht in naher Zukunft, aber in fernerer, wenn immer mehr Leute finden sollten, dass sie individuell bestattet werden möchten. Dass sie lieber in einem Friedwald liegen möchten, wo es nur kleine Plaketten an den Bäumen gibt. „Oder sie machen den Menschen zum Gegenstand, indem sie die Asche zu einem Diamanten brennen“, sagt Rehkopf. Das ist in Deutschland zwar noch nicht erlaubt, aber deutsche Bestattungsunternehmer bieten an, es in der Schweiz machen zu lassen. Die Diamantenlösung wird noch nicht so oft verlangt, aber der Friedwald im niedersächsischen Bispingen ist so beliebt, dass es mittlerweile Kutschfahrten dorthin gibt. „Natürlich haben wir auf den Trend reagiert“, sagt Lutz Rehkopf. In Ohlsdorf gibt es jetzt einen „Ruhewald“ und ein „Portfolio von Dienstleistungen“. Im Portfolio sind unter anderem die „exklusive Rosengrabstätte“, der Garten der Jahreszeiten und neuerdings auch die Schmetterlingsgrabstätte mit Grabsteinen mit Schmetterlingsmotiv. „Wir haben seit 70 Jahren die ersten Anfragen nach neuen Mausoleumsbauten“, sagt Lutz Rehkopf, aber er sagt auch, dass immer mehr Leute immer weniger Geld für Gräber und Trauerfeiern ausgäben. Etwa 70 Prozent der Leichen werden heutzutage verbrannt. Vielleicht vertrauen die Leute nicht mehr recht in die Auferstehung, aber vielleicht haben die Angehörigen auch vor Augen, dass ein Urnenwahlgrab 325 Euro kostet und ein Sargwahlgrab 875 Euro. „Viele alte Leute sind ja schon vor der Beerdigung den sozialen Tod gestorben“, sagt Lutz Rehkopf.

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„Schrecklich“, sagt der Steinmetz, wenn man ihn nach den Sozialkissen fragt. „Sozialkissen“ nennen sie die allereinfachsten Grabsteine, die das Sozialamt zahlt, wenn sonst niemand für einen Stein aufkommt. „Die nehmen sie, wenn das Geld lieber in die Erbmasse statt in den Grabstein fließen soll“, sagt der Steinmetz. Im Herbst ist von der Inschrift auf den Sozialkissen unter dem Laub nichts mehr zu sehen. „Man müsste sie wenigstens hochstellen, sonst kann man es gleich lassen“, sagt der Steinmetz.

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Auf dem Ohlsdorfer Friedhof gibt es eine große Grabfläche für die Bombenopfer des 2.Weltkriegs. Es sind lange Reihen kleiner Steinplatten neben denen je ein Rosenstrauch wächst. Es gibt nur zwei Gräber, auf die jemand Blumen gestellt hat: Auf dem von Lissy Kieschnast, geboren 8.4. 1923, gestorben 29.7. 1944, steht eine weißer Topf mit einer gelben und einer weißen Plastikblume und auf dem von Gustav Getsin, geboren am 12.5.1878, gestorben am 20.6. 1944, liegt ein Gesteck. Eine Dame mit Wollmütze hat sich in der Nähe einen Pilz gepflückt. „Ich habe sieben Grabstellen, die ich hier pflege“, sagt sie. Und wer wird ihr Grab pflegen? „Ich möchte das den Kindern nicht zumuten“, sagt sie. Deshalb wird sie anonym beerdigt werden. „Es ist ja auch Geldmacherei“, sagt sie.

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„Früher hat man in so einer Art Rallye die Kränze am Volkstrauertag niedergelegt“, sagt Oktavia Christ, die Geschäftsführerin des Hamburger Landesverbandes des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. „Ich halte es nicht aus“, hat sie nach dem ersten Volkstrauertag zu ihren Kollegen gesagt. Bis vor drei Jahren hat jeder seine eigene Veranstaltung organisiert: Der Volksbund, die Opferverbände der Verfolgten der NS-Zeit, die Bundeswehr. In den letzten Jahren sind die Busse, die all die Organisationen für ihre Veranstaltungen gemietet haben, immer leerer geworden. Nachdem der Senat alle Beteiligten zu Gesprächen einlud, hat man sich zusammengetan. In diesem Jahr im KZ Neuengamme, vor einem Jahr an der Barlach-Stele am Rathausmarkt, die an die Soldaten des 1. Weltkriegs erinnert. Oktavia Christ findet, dass das ein großer Fortschritt ist gegenüber den „Kranzabwurfgeschichten ohne Sinn und Verstand“. Nicht, um die Unterschiede zwischen den Toten und den Ermordeten zu vertuschen. „Man kann da nicht einfach von Schicksal sprechen“, sagt sie. Aber man kann die Schwester eines Euthanasie-Opfers einladen oder einen Überlebenden des Warschauer Ghettos und damit herbeiführen – oder erzwingen – dass alte Soldaten und 15-jährige Schüler ihnen zuhören. Doch im letzten Jahr, sagt sie, störten sich die Linken an der Stele, die ihnen zu nah am Soldatischen war und in diesem Jahr die Rechten am KZ und dass man vergaß, sie offiziell einzuladen. Oktavia Christ sagt, dass der Volksbund durchaus Anlass zur Selbstkritik habe – „es muss benannt werden, wenn auf einem Friedhof SS-Gräber dabei sind – aber heute ist sie sehr zufrieden damit, dass die Hauptveranstaltung am Sonntag erstmals auf den Nachmittag gelegt wurde. „Dann kann jeder zu jedem kommen.“