: berliner szenen Abschied im Zoo
Orlandos Himmelfahrt
Wenn Holly Golightly das rote Grausen bekam, ging sie zu Tiffany’s in New York. Ich bevorzuge den Zoo im Westen unserer Stadt. Im Laufe der Jahre bin ich meinen Lieblingstieren leider nicht treu geblieben, den Panda finde ich überspannt, das Affenhaus zu traurig. Meine Liebe gilt nun einem Beo, der in der Fasanerie zwischen Malaienente, Ährenträgerpfauen und Rotwangensäblern sitzt.
Von ihm erhoffte ich mir kürzlich das Glück, was mir gerade fehlte. Die Herbstsonne würde sein schwarzes Gefieder schimmern und den Schnabel noch gelber leuchten lassen. Und wenn Orlando, so heißt der Beo, es gut meinte, würde er die Marseillaise vorsingen, das kann er wirklich, es steht extra auf dem Schild neben seinem Käfig. Man muss nur selbst anfangen: „Allons enfants de la Patrie“, schon singt Orlando weiter, und alle Zoobesucher, die gerade neben einem stehen, freuen sich. Sofort erzählen sie von Reisen nach Frankreich, ihrer Bewunderung für Zidane. Im letzten Sommer sagte ein hoch betagter Herr mit soldatischem Unterton: „Im Ersten Weltkrieg hätte man diesen Vogel erschossen!“ Danach imitierte Orlando den hartnäckigen Husten des Herrn, und alle mussten lachen.
An diesem Tag aber konnte ich den Beo nicht in seinem Käfig finden und wartete eine Weile auf der gegenüberliegenden Bank. Doch Orlando kam nicht. Sein Pfleger brachte mir die Todesnachricht, er sagte tatsächlich: „Orlando ist jetzt im Himmel“, legte behutsam seine Hand auf meinen Arm und sah dabei nach oben. Jetzt muss ich mir ein neues Tier gegen das rote Grausen suchen. Ich liebäugele mit der Hyäne, die sich bei der Fütterung als einziges Raubtier den Bauch kraulen lässt und dabei so laut lacht, dass alle lachen müssen. JUTTA RAULWING