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Archiv-Artikel

Die Superstadt des Westens

Los Angeles ist ein Produkt der 50er-Jahre, als sich der Amerikanismus auf dem Höhepunkt seines optimistischen Kreuzzuges zur Beglückung der Welt befand. Heute ist Los Angeles die Stadt der unendlichen Verkehrsströme, Banden und Slums – auch ein Ort der Desillusionierung

Es gibt in Los Angeles ein Monument, das dieses verlorengegangenen Glaubens gedenkt

VON EGBERT HÖRMANN

Verwandeln wir uns in einen Kondor, wie es die Schamanen der Chumasch-Indianer taten, die vor tausend Jahren hier lebten. Aus luftiger Höhe überblicken wir ein Gebilde, das vom Pazifik, den Hollywood Hills, den Santa Ana-, den Santa Monica- und den San Gabriel Mountains begrenzt wird: ein Becken, dessen Kern die Stadt ist, die den betörend klangvollen Namen El Pueblo de Nuestra Señora la Reina de Los Ángeles trägt. Heute knapp L. A., Surfurbia, Hauptstadt der Dritten Welt, Smogsville, Lala-Land, Tinseltown, Dream Factory of the Western World und Combustion City genannt, wo sich der amerikanische Glaube an die Maschine und den Materialismus sein eigenes erstaunliches Totem errichtete. Eines der überragendsten posturbanen Spektakel, eine metastasierende, verstreute, fragmentierte Metropole (circa 15 Millionen Einwohner, ein größeres Bruttosozialprodukt als Indien, etwa 200 Kilometer in Ost-West-Richtung und 250 Kilometer von Santa Barbara nach San Diego), die den Bauplan für alle künftigen Superstädte enthält. Die einzige Megalopolis der Ersten Welt, die im Tempo der Superstädte der Dritten Welt wächst.

Als die USA 1850 Kalifornien von Mexiko annektierten, war Los Angeles ein Dorf mit 1.600 Einwohnern, das in einer Region dahindöste, die über keinen natürlichen Hafen und keinerlei Infrastruktur verfügte. Die beispiellose Entwicklung zum heutigen Siedlungskonglomerat wurde vor allem durch vier Faktoren bestimmt: das Ende der kontinentalen Eroberung, die Besonderheit von Klima und Geografie, Bodenspekulation und schließlich die Geschichte des Verkehrs- und Transportwesens.

Jede Epoche kennt ihre „Hauptstadt“. So wie Wien für immer Fin de Siècle bleibt und Paris „die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), so ist Los Angeles in seiner Essenz die Stadt der 1940er- und 1950er-Jahre, als sich der Amerikanismus auf dem Höhepunkt seines optimistischen Kreuzzuges zur Beglückung der Welt befand. Das Zauberwort war „Know-how“, jenes spezifische amerikanische Genie für Erfindungen, Effizienz und technisches Können. Know-how war das Symbol eines Glaubens an eine amerikanisch kodierte Zukunft, an die erlösende und emanzipierende Kraft der Technologie, der Maschinen und des Materialismus. Deshalb wird in der populären Imagination L. A. immer die Stadt des Autos, des Showbusiness und des Celluloid-Lourdes Hollywood sein.

Los Angeles wurde schon sehr früh zu einem von der technologischen Ratio straff durchstrukturierten Raum, dessen wesentliches Merkmal die Mobilität war, einer der höchsten Werte der amerikanischen Ideologie. Auf Eisen- und Straßenbahn folgte ab 1939 der Bau des Freeway-Systems, das grandioseste und aufregendste Artefakt der Stadt, das die Gestalt von Los Angeles als dezentralisierte Megalopolis endgültig besiegelte und deren Imago für immer so fixierte, wie unser Bild von Paris durch die Boulevards von Haussmann bestimmt ist.

„Wie kann man das Streben nach Glück schneller und sicherer erfüllen“, fragte die Los Angeles Times bereits 1926, „als durch den Gebrauch des Automobils?“ Heute verfügt L. A. über die weltweit größte Flotte von Automobilen. Verkehr und Mobilität, verstanden als die private Verfügung über Zeit und Raum, stellen die Identität des Angelinos her. Selbst das kollektive Trauma vom 8. September 1943, als der erste Smogalarm den Glauben an die unbegrenzte Ausbeutung des natürlichen Environments erschütterte, änderte nichts: Der Freeway ist ein Teil der urbanen Mystik. Da keine Anleitung existiert, die dem Fremden das Freeway-System erklären könnte, wird jede Fahrt wie im klassischen Western zu einer Art Initiation auf einem anarchischen Terrain, die von großer Symbolkraft ist; sie erfordert Konzentration, Entscheidungskraft und Intuition. Der Autofahrer wird zum Passagier par exellence.

Aber nicht nur für Amerikaner war Los Angeles die Vision der Neuen Welt. Der Himmel über der Stadt erinnerte Thomas Mann an Ägypten. Roland Barthes verstieg sich zu der Behauptung, das Auto sei „das genaue Äquivalent der großen gothischen Kathedralen“, Umberto Eco erfeute sich kindlich an einer kitschigen Zurschaustellung nach der anderen, und Jean Baudrillard rhapsodierte: „Es gibt nichts auf der Welt, was mit einem nächtlichen Flug über Los Angeles vergleichbar wäre.“

Die Nacht verschleiert diesem philosophischen Touristen so einiges: 140.000 Gangmitglieder, 1.800 verschiedene Konfessionen, 50 Prozent Arbeitslose in den schwarzen und braunen Gettos, Rezession, eminente Jobverluste in den Schlüsselindustrien Luft- und Raumfahrt, über sechs Gefängnisse in einem 3-Meilen-Radius um das Rathaus Downtown, eine Militarisierung des zerstörten öffentlichen Raums, eine Armee von privaten Sicherheitskräften und ein Heer von Tagelöhnern und Billiglohnarbeitskräften.

Die Nacht verschleiert ebenso eine der aktivsten Erdbebenregionen der Welt und das Seiltanz-Leben auf der Nahtstelle zweier tektonischer Platten, die sich auf glühendem Magma in entgegengesetzte Richtung bewegen bis zu jenem Erdstoß (geschätzte 8,3 Punkte auf der Richter-Skala), der Südkalifornien einmal unweigerlich heimsuchen wird.

Das jederzeit mögliche Superbeben mag sich gerade noch verdrängen lassen, die Kollision der Platten der Ersten und der Dritten Welt findet bereits täglich statt: Der „Schmelztiegel der Völker“ ist fast erloschen, und nach Schätzungen werden 2010 höchstens noch 40 Prozent der Bevölkerung Weiße sein.

Ein neues Blade-Runner-Szenario kündigt sich an. Seit 1909 ist Los Angeles in Romanen und Filmen immerhin fast 150-mal zerstört worden. Buschfeuer, Hitzewellen, Erdstöße, Erdrutsche, Aufstände – die Essayistin Joan Didion schreibt, dass das tiefe, unbewusste Bild, das Los Angeles von sich selbst hat, die in Flammen stehende Stadt ist: „Das Klima von Los Angeles ist das Klima der Katastrophen, der Apokalypse …“ Einem Beobachter schwante: „Los Angeles gleicht mehr und mehr jenen prämodernen Städten, wo die Arbeiter weder Gewerkschaften noch Parteien hatten, wo Angst konstanter Begleiter des Alltags war und wo Aufstände routinemäßig zur Politik gehören.“

Blickt man von einem der Hügel auf diese neben Chicago amerikanischste aller amerikanischen Städte, so sieht sie tatsächlich wie eine der klassischen Städte, einer der Archetypen aus, und man ist immer noch von ihrer pragmatischen Let’s-do-it-Vitalität überwältigt. Aber Los Angeles hat wie das amerikanische Imperium seinen Zenith überschritten. Die Maschine hat ihr emanzipatorisches Versprechen längst verloren, und Los Angeles haftet der Geschmack der Desillusionierung an. Diese gewaltigen Verkehrsströme, diese unendlichen Freeways, diese Autos, diese Jets, diese selbstbewusste Imago, diese wunderbare Effizienz amerikanischen Know-hows, dieser Ruhm, dieser Glamour, diese Lügen, Illusionen und Legenden – es waren alles falsche Versprechen, und niemand mag darin mehr die Symptome der Menschheitserlösung sehen.

Es gibt in Los Angeles ein Monument, das dieses verlorengegangenen Glaubens gedenkt. Es befindet sich in einem erschöpften, touristenfreien Slum und wurde mit Gaudis La Sagrada Família verglichen. Der Fliesenleger Simon Rodia, ein italienischer Immigrant, baute von 1921 bis 1954 ganz allein mit allem, was ihm an städtischem Abfall in die Hände fiel, Zement, Bettgestelle, Glasscherben, Rohre, ein afrikanisch-orientalisch anmutendes, 32 Meter hohes Gebilde und umgab es mit einer irregulären Mauer, die wie eine Reihe von Grabsteinen aussieht. Nach seiner Motivation befragt, sagte er nur: „I wanted to do something big, and I did it.“ Rodia war ein Prophet: Als er seine drei filigranen Türme gebaut hatte, schenkte er sie seinen Nachbarn und verließ Los Angeles für immer.

Keine Depesche aus Südkalifornien wäre vollständig ohne eine apokalyptische Schlussbemerkung, und jeder, der über Amerikas Zukunftsaussichten spekuliert, ist per Gesetz dazu verpflichtet, Alexis de Tocqueville zu zitieren. 1840 sagte de Tocqueville im Nachwort zu „Demokratie in Amerika“ voraus, dass das amerikanische Volk den Pazifik erreichen und danach denselben Weg zurückgehen würde, um die Gesellschaft, die es hinter sich zurückgelassen hatte, „in Unordnung zu bringen und zu zerstören“.