Der Name der Mutter

FILM Das Arsenal zeigt Angelika Levis Filme. Ihre frühen Kurzfilme sind schön queer, ihre jüngeren verweigern die geraden Linien, das Setzen einer dominanten Perspektive, wenn sie abwesende Personen herbeierinnern

Ursula Levi erkrankt schwer, überlebt mit knapper Not – und die Gesellschaft erklärt sie für verrückt. Weil sie ehemalige Nazis und gegenwärtige Antisemiten Nazis und Antisemiten nennt

VON EKKEHARD KNÖRER

Eine Retrospektive: Man wirft einen Blick zurück. Das klingt einfacher, als es ist. Jeder Blick zurück ist auch einer auf die Gegenwart. Jede Blickbewegung impliziert weitere, in andere Richtungen. Blicke, die man geworfen hat, kehren plötzlich wieder, alles kompliziert sich sofort. Das lernt man in den Filmen von Angelika Levi.

In der nun im Arsenal zu sehenden Retrospektive sind Levis frühe Filme zu sehen, die experimentierfreudigen, die schön queeren, die an der Berliner Filmakademie DFFB entstandenen und meist kurzen Filme. Zum Beispiel „Freunde“: Levi selbst halbnackt auf einem Berliner Hausdach, ein Trickfilm, in dem sie mit Russisch Brot und Kirschmarmelade Wörter auf den eigenen Körper schreibt: Neid, Balsam, Verrat, Hilfe, Halt, Sumpf, Spass. „Auf gehts aber wohin“, von 1989 zeigt Flugzeuge über der Stadt: Eine Räuberpistole mit RAF und zwei durch den urbanen Raum driftenden Frauen. Noch früher, „Ariel“, eine angenehm sich dezentrierende Geschichte nach Kafka. Roter Staub überall, auf dem Boden, auf dem Gemälde an der Wand.

In manchen dieser Filme trägt Levi im Abspann noch den Namen des Vaters, Angelika Becker. Das ist kein nebensächliches Faktum. Klar wird das in „Mein Leben – Teil 2“ (2003), dem Werk, mit dem sich Levi, wie man so sagt, einen Namen gemacht hat. Es ist ein autobiografischer Film, in dem Levi die Geschichte ihrer Familie herbeierinnert. Das Material ist divers und wird als solches behandelt. Es gibt die Filmaufnahmen, die Levi selbst gemacht hat, es gibt andere Text- und Bilddokumente, die Super-8-Filme des Vaters. Es tritt persönlicher Text, von Levi gesprochen, der Text eines Ich, zu den anderen Stimmen. Es entsteht das Bild der jüdischen Mutter. Man erfährt ihre Geschichte, die unauflöslich mit der Geschichte von Juden in Deutschland, mit der Schoa verknüpft ist. Dr. Ursula Levi emigriert nach dem Krieg nach Chile, macht als Biologin Karriere, kehrt nach Deutschland zurück, heiratet einen protestantischen Pfarrer mit Namen Becker, erkrankt schwer, überlebt mit knapper Not – und die Gesellschaft erklärt sie für verrückt. Weil sie ehemalige Nazis und gegenwärtige Antisemiten Nazis und Antisemiten nennt, auch wenn diese fleißig den Gottesdienst ihres Ehemanns besuchen.

Angelika Levi flicht sich in diese Geschichten hinein. Die Erinnerungsarbeit ihrer doppelten Herkunft unternimmt die Filmemacherin nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1996 auf eigene Faust. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind Schauplätze des Films, in Deutschland und andernorts. Ältere Aufnahmen aus Chile sind dabei. Levi ist entsetzt, wie überlebende Juden sich dort mit dem Pinochet-Regime arrangiert haben. „Mein Leben – Teil 2“ ist ein weit sich auffächernder Film. Vieles verknüpft sich in der Frage nach den Entwürfen der Überlebenden der zweiten Generation. Sie und ihr Bruder, sagt Levi, ein Schwuler und eine Lesbe, verweigern die Fortpflanzung, die ein jüdischer Wissenschaftler, den man im Film sieht, als wirksamstes Statement gegen die Schoa begreifen will.

Mehr noch als im Vorgänger verweigert Angelika Levi in ihrem neuen Film „Absent Present“ die geraden Linien, das Setzen einer dominanten Perspektive und Position. Ein Film ohne Hauptdarsteller sei das, erfährt man gleich zu Beginn. Der Hauptdarsteller, der keiner werden konnte, heißt Benji P. Aus Namibia im Jahr 1979 in die DDR gekommen, in einem Kinderheim, das heute ein Luxushotel ist, aufgewachsen. Nach der Wiedervereinigung wird er abgeschoben. Levi lernt ihn Anfang der Neunziger in Namibia kennen, per Autostop durch ganz Afrika kehrt Benji Mitte der Neunziger nach Deutschland zurück. Levi will in ihrem Film seine Geschichte erzählen. Doch Benji verschwindet, seine Spur bleibt verloren.

Dieser Verlust nimmt „Absent Present“ sein Zentrum. Die Regisseurin nutzt die Gelegenheit und bewegt sich in verschiedene Richtungen zugleich. Sie erzählt von Kolumbus’ Aufenthalt auf den Kanaren, vom Sklavenhandel. Sie findet auf Teneriffa ein Lager, in das man Migranten aus Afrika pfercht. Levi fährt in den Senegal, der sich das Recht seiner Bürger auf Freizügigkeit von Spanien abkaufen ließ. Sie beobachtet professionelle Auffangjäger, die alle illegal Reisenden vor der Küste aufhalten sollen. Dazwischen immer wieder Bilder von Benji, der abwesend bleibt, dessen Blick man dennoch nicht los wird. Manchmal blickt einen das Abwesende insistierender als das Anwesende an.

■  Heute um 19 Uhr sind acht Kurzfilme Angelika Levis zu sehen. Um 21 Uhr wird „Mein Leben – Teil 2“ gezeigt. www.arsenal-berlin.de