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: Ein Tollhaus aus Papier

„Von morgens bis mitternachts“. Regie: Karlheinz Martin. Deutsch- land 1920, Edition Filmmuseum

Keine gerade Linie, keine einzige: Unleugbar ist die Nähe von „Von morgens bis mitternachts“ zum ungleich berühmteren, im selben Jahr 1920 entstandenen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene. Zu jenem Werk also, das zum Synonym wurde für das expressionistische Kino der frühen Weimarer Republik. „Von morgens bis mitternachts“ dagegen kennt man kaum. Ein Grund dafür ist so verblüffend wie einfach: Der mit fast keinem Geld gedrehte erste Film des damals bereits sehr renommierten avantgardistischen Theaterregisseurs Karlheinz Martin, der später unter anderem Direktor der Berliner Volksbühne war, kam nach einer wohl desaströsen Pressevorführung damals gar nicht erst regulär in die Kinos.

In Deutschland jedenfalls, denn in Japan lief der Film mit Erfolg. Dort auch überlebte die einzige Kopie, die das Münchner Filmmuseum nun ganz exzellent restauriert und in der höchst schätzenswerten „Edition Filmmuseum“ veröffentlicht hat. Ganz ausdrücklich lobenswert ist auch die kongeniale Musik, die das Schlagensemble H/F/M für die Edition eingespielt hat.

Die krumme Welt, in die Martin das Stück des Erfolgsdramatikers Georg Kaiser versetzt, tut gar nicht erst realistisch. Alles aus Pappe, die Räume nur notdürftig mit Wandansätzen begrenzt: Schmierentragödie, reine Kulisse. Linien, Markierungen, Umrisse sind schief und gekrakelt, wie in höchster Eile mit Kreide und/oder Farbe auf die Pappe gekleckst. Die Tür wackelt, das Klavier ist nicht echt, die Lampe Papier.

Sogar die Kostüme und Masken sind aus dem dürftigen Stoff, der hier eine Welt bedeutet – mit gezackten Linien auf Hose und Jacke, als wäre er oder sie kaum mehr als Fortsetzung des Wandhintergrunds in Menschengestalt. Auch trägt fast jeder komische Flecken und seltsame Bärte im Gesicht. Kino als Bühne als Tollhaus, durch das am allertollsten seitwärts von Windmaschinen getrieben Konfettischnee immerzu wirbelt.

Es gibt einen Plot, aber Karlheinz Martin macht aus dem Stationendrama, das die Vorlage ist, eine von einer bizarren Szenerie zur nächsten taumelnde Nummernrevue. Rollennamen gibt es dabei gut expressionistisch nicht: alles Typ, alles Mensch, die letzten Worte sind denn auch, leuchtend in die Kulisse geschrieben „Ecce homo“.

Los geht es anders. Da sitzt der Held (Ernst Deutsch) noch als Kassierer am Bankschalter. In eine junge Frau, die Geld von ihm will, verguckt er sich sehr. Er plündert die Kasse, verlässt Frau und Tochter und Mutter und will mit der Schönen auf und davon. Die aber will keineswegs, so gerät er hinaus in die konfettischneedurchtoste finstere Welt.

Er macht Station beim Sechstagerennen, das in verzerrten Spiegelungen nicht als sonderlich real vorgestellt wird. Einzig Spucke und filmemacherische Chuzpe halten die Raumillusion – auf die es ja aber auch gar nicht hinaus soll – so halbwegs zusammen. Man sieht das noble Publikum im Parkett, das weniger noble auf den Rängen und die tumultuös tobende Menge in der Galerie. Dazwischen fährt die Kamera immer weiter hoch ins Schwarze. Mit seiner karikierend typisierten Darstellung der sehr verschiedenen Publikumsschichten, mit seinem Sinn ohnehin für absurden Humor, ist „Von morgens bis mitternachts“ dabei viel näher an Otto Dix oder George Grosz als am expressionistischen Pathos des scheinbaren Zwillingsfilms „Caligari“.

Es geht weiter, aber nicht gut aus, denn Geld allein macht nicht glücklich. Der Kassierer, der den ganzen Film durch Gesichte des Todes hatte, erschießt sich und hängt zuletzt mit schiefen Armen am schiefen Heilsarmeekreuz, das ebenso aus Pappe ist wie der Rest dieser Welt.

EKKEHARD KNÖRER