Zwei Schutzpersönlichkeiten und eine Frau namens Agnete

MULTIPLES ERZÄHLEN Für den Fall, dass das Leben zu weh tut: Tor Åge Bringsværds sehr stimmgewaltige Erzählung „Die Frau, die allein ein ganzer Tisch war“

Wozu sollte man die Wahrheit leben, wenn man in der Dichtung leben kann?

Was ist ein Zitat eigentlich anderes, als eine andere Person für sich sprechen zu lassen? Als leihe man sich für einen Moment den Esprit, das Fühlen und Denken, ja die Persönlichkeit eines anderen? Wenn man als Autor eines Buches diesem ein Zitat voranstellt oder gar jedem einzelnen Kapitel, lässt man damit von einem Dritten dessen Inhalt kommentieren, ist aber, als Zitierender, doch gleichzeitig derjenige, der spricht. Allein das ist schon recht schizophren. Sehr selten aber, oder nie, wird das Zitat in all seiner kommunikativen Ambivalenz so zum Teil des Werkes wie in diesem kleinen Roman. „Roses are red, violets are blue, I’m schizophrenic, and so am I.“

Dem amerikanischen Komponisten Oscar Levant kommt die Ehre zu, mit diesem Ausspruch das erste Kapitel von Tor Åge Bringsværds „Die Frau, die allein ein ganzer Tisch war“ einzuleiten. Vor dem zweiten Kapitel wird man gewarnt: „I don’t want the truth, I want something I can tell the Parliament“ (das stammt, die Quellen sind ordentlich angegeben, aus der britischen Serie „Yes, Minister“). Und so geht es stetig weiter. Es ist, als mische ein zusätzlicher Stimmenpool mit in der Erzählung, die ohnehin schon stimmenreich ist, denn der Erzähler ist, nein, die Erzähler sind eine multiple Persönlichkeit. Ein Mann namens Sigurd, über den lediglich in der dritten Person verhandelt wird, liegt in einer Klinik. Ein Bein fehlt ihm, er wartet auf eine Prothese, doch dieses Bein ist wohl auch nur ein Stellvertretersymbol, so wie auch Sigurd gerade nur durch seine Stellvertreter in dieser Welt repräsentiert wird. Das sind Bodil und Balder, seine zwei hölzernen Handpuppen; denn Sigurd ist Bauchredner. Ein fantastischer Beruf für einen, der, wie sich allmählich offenbart, schon als Kind Schutzpersönlichkeiten entwickelt hat, die sein Leben übernehmen können, wenn es allzu schmerzhaft wird.

Bodil und Balder wechseln sich nicht nur mit Sprechen ab, sondern schreiben auch die Geschichten auf, die Sigurd durch sie erzählt. Es sind viele Geschichten über eine Frau namens Agnete dabei, die allerdings, so wird zunehmend klarer, in Wirklichkeit auch mehr als eine ist, und Agnete hieß sie vermutlich ebenfalls nicht. Die letzte Agnete arbeitete in einer Buchhandlung, und sie hat Sigurd, wird erzählt, so beschäftigt, dass er in seiner Wohnung einen ganzen Tisch mit Agnete-Devotionalien angelegt hat und diesen Tisch, da es schwer ist, sich der wirklichen Person zu nähern, zunehmend mit der Frau identifiziert.

Erst spät erfährt man, was mit der echten Frau passiert ist, doch der Tisch jedenfalls ist verbrannt, und deshalb liegt Sigurd mit nur noch einem Bein in der Klinik. Dort bildet er den verlorenen Tisch nach. Er nimmt dafür den grünen Vorhang als Decke, denn Agnete trug immer gelbe Kleider, und Grün ist wie Gelb („violets are blue“): Darauf platziert er eine kleine, aus Papier ausgeschnittene Agnete-Puppe, und sammelt darum herum alle Geschichten, die Bodil und Balder aufgeschrieben haben, und anderen Kram.

Doch falls dies nun wie eine traurige Geschichte klingen sollte, so täuscht der Eindruck. Denn durch die erzählerische Präsenz von Bodil und Balder wird Sigurds Leiden ja gar nicht an uns herangetragen. Bodil ist die Mitfühlende, Milde, Balder dagegen der Vernünftige, gewissenhaft Strenge. Sie bilden eine Gemeinschaft für sich, leisten Sigurd Gesellschaft, wann immer er sie braucht, und vermitteln zwischen ihm und der Umwelt. Das ist eigentlich sogar ganz schön.

Tor Åge Bringsværd ist möglicherweise am Krankheitsbild multipler Personen vor allem insofern interessiert, als sich dadurch multiple erzählerische Möglichkeiten ergeben. Dem Leser kommt es zu, aus den bruchstückhaften Puzzleteilen der polyphonen Erzählung selbst eine konsistente Geschichte zu konstruieren. Was Dichtung und was Wahrheit ist, wird nicht letztgültig geklärt. Man möchte ja auch so gern glauben, dass es nicht nur „something to tell the Parliament“ ist, wenn Sigurd am Ende von der Liebe erlöst wird. Doch ist Misstrauen angezeigt. Denn gerade wenn man sich freuen beginnt, dass Sigurd endlich für sich selbst zu sprechen scheint, passiert wieder etwas, das an seiner Heilung zweifeln lässt. Und dann spricht zum Schluss sogar der Autor in fremder Zunge, ausführlicher als je zuvor. Denn der komplette Epilog ist wieder – was auch sonst – ein Zitat.

Aber – na und? Wer Sigurds Geschichte(n) kennt, kann dazu nur sagen: Wozu sollte man die Wahrheit wählen, wenn man die Möglichkeit hat, stattdessen in der Dichtung zu leben?

KATHARINA GRANZIN

Tor Åge Bringsværd: „Die Frau, die allein ein ganzer Tisch war“. Aus dem Norwegischen von Volker Oppmann. Onkel & Onkel, Berlin 2010, 127 Seiten, 16,95 Euro