„Erst Stöcke, dann Kalaschnikows“

Ukraine Das Regime ist beseitigt, aber die Stimmung bleibt weiterhin instabil. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Juri Andruchowytsch

■ Der Schriftsteller: 54, geboren in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine, studierte in Lemberg Journalistik und arbeitete zunächst als Lyriker. Er gehörte 1985 zu den Mitbegründern der avantgardistischen Künstlergruppe „Bu-Ba-Bu“. Mit seinen Romanen „Rekreacij“ (1992), „Moskoviada“ (1993) und „Perverzija“ (1999) wurde er zu einer Größe der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2006 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Völkerverständigung. Juri Andruchowytsch zählt zu den führenden Intellektuellen der Ukraine. Gegenwärtig hat er die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.

INTERVIEW TIM CASPAR BOEHME

taz: Herr Andruchowytsch, in Ihrem offenen Brief vom Januar haben Sie sich verhalten optimistisch über die Aussichten der Maidan-Bewegung geäußert. In der Zwischenzeit wurden durch die Annektierung der Krim und die separatistischen Bestrebungen im Donbas neue Tatsachen geschaffen. Wie groß ist Ihr Optimismus heute?

Juri Andruchowytsch: Trotz dieser Ereignisse bin ich immer noch optimistisch. Die Maidan-Protestgeschichte ist mit der Flucht Wiktor Janukowytschs eigentlich schon bei ihrem Happy End angelangt, und man kann sagen, dass die Revolution ihre taktische Aufgabe erfüllt hat, weil das Regime beseitigt wurde. Das hat neue Wege geöffnet. Bei der Aggression Russlands mit der Annexion der Krim und der antiukrainischen Bewegung im Donbas handelt es sich um eine neue Episode.

Wie schätzen Sie den Einfluss der antiukrainischen Bewegung ein?

Ob diese Bewegung ihre Ziele erreicht, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, was ihre Ziele sind, und die Leute, die sich als ihre Führer vorstellen, können das auch nicht formulieren. Manche von ihnen sagen: „Wir sind für die Vereinigung mit Russland“, andere sagen: „Wir sind für die Autonomie im Donbas“, und wieder andere sagen: „Wir wollen nur, dass Kiew uns hört.“ Für mich sieht das alles ziemlich chaotisch aus. Ich bin sicher, dass eine Bewegung, die nur Hass in ihrer Ideologie hat, nicht erfolgreich sein kann. Gleichzeitig haben die Ukrainer auf dem Maidan gelernt: Je stärker der Druck, desto stärker ist der Widerstand, und es ist gut und richtig, Widerstand zu leisten.

Was genau hat sich in der ukrainischen Gesellschaft bewegt?

Die Leute erwarten nicht mehr, dass der nächste Präsident das Land rettet. Sie sind sich dessen bewusst, dass alles von ihnen selbst abhängt. Deswegen sind sie überall dort präsent, wo es um lokale Probleme geht. Die unzähligen Baustellen in Kiew etwa, die durch die korrumpierten Verhältnisse zustande kamen, wurden nach dem Maidan in vielen Fällen gestoppt und man ist zu geregelten Verfahren zurückgekehrt, die wieder durch die Gesellschaft kontrolliert werden. Diese gesellschaftliche Kontrolle ist etwas, das die Leute wieder gelernt haben.

Sie sagten, dass die Erwartungen an Veränderungen durch den nächsten Präsidenten nicht sehr hoch sind. Heißt das, dass bei einem Präsidenten Poroschenko auch nicht mit Umbrüchen, etwa im Oligarchensystem, zu rechnen wäre?

Wenn es wirklich dazu kommt, dass Petro Poroschenko Präsident wird, soll er nur ein Instrument sein. In diesem Bewusstsein bereiten sich die Leute auf die Wahlen vor. Der Eindruck täuscht aber, wenn man bei dem Namen Poroschenko sofort an das Wort Oligarch denkt. Er ist vor allem ein erfahrener Politiker. Er war einer der Vertrauten von Präsident Wiktor Juschtschenko, ist also schon lange in der Politik. Ich denke jetzt über meine eigene Wahl nach und habe gegenüber Herrn Poroschenko auch ziemlich viel Skepsis.

Warum?

Ich kenne ihn persönlich. Zur Zeit des Maidan stand er oft auf der Bühne und wir haben uns einige Male unterhalten. Er war einer der aktivsten Politiker dort. Was er als Programmpunkte formuliert, ist ganz in meinem Sinne. Die Frage ist aber, wie er das praktisch verwirklichen wird.

Worauf kommt es beim nächsten Präsidenten an?

Für uns ist es wichtig, ein System zu schaffen, in dem wir uns die Möglichkeit offen halten, einen besseren, einen anderen Präsidenten zu wählen. Bei Janukowytsch ging die Tendenz dahin, dass seine Wahl zum Präsidenten unsere letzte Wahl sein sollte. In Zukunft sollte das System von Janukowytsch so funktionieren, dass die Wahlfreiheit bei uns praktisch null gewesen wäre.

Also eine neue Diktatur?

Sagen wir, eine Art gelenkte Demokratie. Das, was am 30. November gegen diese paar hundert friedlichen Demonstranten eingesetzt wurde, diese brutale Gewalt der damals noch Herrschenden, war das erste Zeichen, dass uns zu den nächsten Wahlen im Jahr 2015 die Ergebnisse nicht mehr vom Chef der Wahlkommission verkündet werden sollten, sondern vom Chef der Polizeispezialeinheit Berkut. Das hat die ukrainische Gesellschaft verhindert. Keinesfalls wird der nächste Präsident zu einer Diktatur tendieren. Er wird mehr unter der Kontrolle des Parlaments stehen und stärker von der Regierung abhängig sein.

Viele in der Europäischen Union haben die Maidan-Bewegung in Kiew anfangs kritisiert und fast belächelt

Sie sagten an anderer Stelle, dass man seit dem separatistischen Votum im Donbas nicht mehr von einer Spaltung des Landes in West und Ost sprechen kann, sondern von einer vereinigten Restukraine gegenüber einem abtrünnigen Donbas. Für wie wahrscheinlich halten Sie, dass sich der innerlich zerstrittene Donbas abspalten wird?

Das ist leider keine unmögliche Variante. Die Stimmungen dort sind instabil. Die Bevölkerung des Donbas lebt in einer Art Phantomwelt. Sie sind verärgert, dass die Ukraine Janukowytsch fortgejagt hat, dabei haben sie selbst unter ihm gelitten. Sie brauchen Phantome, um sich zu erklären, warum sie gegen Kiew stehen, warum sie die Ukraine nicht mehr wollen. Dazu kommt diese massive Propaganda aus Russland und die Ideen, dass die russische Sprache bedroht ist, dass die Regierung in Kiew faschistisch ist, dass sie irgendwelche Nationalisten aus dem Westen schickt, die die friedliche Bevölkerung im Donbas misshandeln und so weiter. Es gibt keine Tatsachen, die das bestätigen, aber die Leute dort brauchen das rein psychologisch.

Das sind keine besonders hoffnungsvollen Aussichten.

Da ist so eine antiukrainische Stimmung, die stetig zunimmt. Vor einem Monat war von Krawallen noch nicht die Rede. Dann kommen ein paar hundert Leute, zuerst mit Stöcken, eine Woche später schon mit Kalaschnikows. Diese Leute gewinnen mehr und mehr Sympathie in der Bevölkerung, die bisher überhaupt nicht daran gedacht hatte zu protestieren. Und diese Bewegung wächst. Ich weiß nicht, wie es nach diesem Referendum ausgeht. Sofern wir nur über diese zwei Seiten im Konflikt sprechen, also die Anti-Kiewer-Bewegung im Donbas und die ukrainische Gesellschaft, ist mir alles mehr oder minder klar. Aber dann gibt es noch einen dritten Akteur, der diese Bewegung provoziert und der sich jede Minute wieder unerwartet und aggressiv einmischen kann.

Sie haben an anderer Stelle den Philosophen Slavoj Zizek zitiert, der zur möglichen Aufnahme der Ukraine in die EU meinte, es komme nicht nur darauf an, ob die Ukraine der EU würdig, sondern auch, ob die EU der Ukraine würdig sei. Sehen Sie in der aktuellen Krise Fehler bei der EU?

Zizek betont in einem Blogpost ein Missverständnis, das zu klären ich sehr wichtig finde. Viele in der Europäischen Union haben die Maidan-Bewegung in Kiew anfangs kritisiert und fast belächelt. Sie sagten: „Die wollen ein Europa, von dem sie keine Ahnung haben, was es ist, und die Griechen gehen gleichzeitig zu Millionen auf die Straße, um gegen dieses Europa zu protestieren.“ Zizek hat ganz richtig behauptet, dass die Ukrainer sehr gut über die Probleme Europas informiert sind, dass sie keinesfalls denken, Europa sei das Paradies auf Erden. Ja, in Griechenland protestieren die Leute gegen die EU. Aber die Ströme von Flüchtlingen aus Afrika nach Griechenland werden nicht weniger. Und das bedeutet, dass es in der Welt noch die anderen gibt, für die Europa trotz dieser Problematik der beste Raum der Welt bleibt. Und die Ukrainer sind überzeugt, dass sie ebenfalls ein Recht darauf haben, einen solchen Standard und ein solches System anzustreben.