LESERINNENBRIEFE :
Fehlt nur das Sandmännchen
■ betr.: „Mehr auf taz.de“, Inland Seite 7, taz vom 21. 12. 10
„In der bösen, maroden, heruntergewirtschafteten DDR fuhren im Winter alle Züge, und auch die kleinsten Strecken wurden bedient.“ taz.de-User „Ossi“
Heute morgen beim Durchblättern eurer Zeitung wäre mir vor Schreck fast der Tee aus der Tasse gehüpft, durfte ich doch lesen, dass die DDR trotz ihres maroden Sozialismusdiktaturendzustands noch immer einen geregelten Zugverkehr auf die Beine gestellt hat. Ferner erfuhr ich, dass selbst kleinste Bahnstrecken noch bedient wurden. Wie schön, dachte ich zuerst. Kleine, sauber geputzte Reichsbahnlokomotivchen fahren hutzelige Reichsbahnwaggons selbst auf die fernsten Höhen in Harz und Thüringer Wald. Fehlt also nur noch das Sandmännchen an der sozialistischen Kohlenschaufel, dass für den real existierenden Vortrieb selbst bei brüderlich-sibirischen Temperaturen sorgt.
Dann habe ich mich aber gefragt, ob da jemand zu viel an seinem Räuchermännchen geschnuppert hat. Denn: Die DDR war eine kaputte, heruntergewirtschaftete Diktatur, die ihre Bürgerinnen und Bürger an der Grenze zum Abschuss freigegeben hat. Und zu den Eisenbahnen: Ich habe in Leipzig einen Zugführer kennengelernt. Er berichtete davon, dass die Eisenbahner als Jux ein Schild in ihrer „Genossen-Umkleide“ aufgehängt hatten. Das war aus der damaligen BRD. Darauf stand: „Langsamfahrstrecke – 120 km/h“. Ein Schenkelklopfer für die Kollegen aus der DDR, schafften die mit ihren Zügen diese Geschwindigkeit noch nicht einmal im Normalbetrieb. Das hat der DDR-Eisenbahner mir am Frühstückstisch erzählt, als er mit seiner Lebensgefährtin aus der Lokalzeitung die vorgegebenen Parolen für die Mai-Demo durchsah. Es mussten ja betriebseigene Transparente erstellt werden.
Am nächsten Tag wollte ich nach Dresden. Da wurden die Zugreisenden erst mal in Busse verfrachtet, mussten noch zwei Kilometer durch die Pampa laufen, kamen an einen Bahnhof vom Typ „Die-ersten-15-Minuten-in-Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod“, um nach einstündiger Wartezeit im Fußgängertempo Richtung Elbe zu zuckeln.
Gerade schreit meine Frau: „Jürgen, deine Ansprüche sind zu hoch!“ Und ich denke mir, vielleicht hat sie recht. Vielleicht verlange ich wirklich zu viel, wenn ich mir wünsche, dass die Züge pünktlich und regelmäßig fahren, dass die Ostalgie endlich in die Toilette gespült wird, die Diktaturen auf der Welt verschwinden, der Klimawandel aufgehalten wird, der Weltfrieden eintritt, die FDP eine liberale Partei wird … Ach, Weihnachten! JÜRGEN BLÜMER, Drensteinfurt
„Wutbürger“ ist ein absoluter Flop
■ betr.: „Leistung lohnt nicht“, taz vom 18. 12. 10,„Wie geht es uns, Herr Küppersbusch“, taz vom 20. 12. 10
Jetzt mal ehrlich: „Wutbürger“ als Wort des Jahres 2010 ist doch der absolute Flop! Es kann ja sein, dass die taz diese Wortschöpfung als Erste irgendwann mal geschrieben hat. Aber muss man Spiegel oder Stern lesen, um überhaupt darauf zu stoßen? Mir ist „Wutbürger“ das ganze Jahr über nicht einmal begegnet – weder in Zeitungen noch in anderen Medien. Auch im Fernsehen war der Begriff „Wutbürger“ so gut wie nie ein Gegenstand in der Berichterstattung oder Kommentierung. Auch bei Plasberg, Will und Co. hat diese Wortschöpfung niemand in den Mund genommen. Allenfalls wurde „die Wut der Bürger“ thematisiert.
Der Gegenstand an sich kennzeichnet natürlich eine wichtige politische Entwicklung des abgelaufenen Jahrs durch die Proteste in Stuttgart, Gorleben und anderswo. „Wutbürger“ ist aber nicht viel mehr als ein journalistischer Kunstbegriff und bisher ohne kommunikative Breitenwirkung gewesen. Dabei hätte es so viele „echte“ Wortschöpfungen für neue Sachverhalte gegeben. Friedrich Küppersbusch hat einige aufgelistet, siehe: schottern, Dekadenz, Schlichtung. HARTMUT GRAF, Hamburg
Wikileaks schürt das Misstrauen
■ betr.: „Appell gegen die Kriminalisierung von Wikileaks“,taz vom 16. 12. 10
Der erste Blick zeigt, dass der Artikel 19 der Menschenrechte nichts mit Wikileaks zu tun hat. Der Artikel garantiert die Freiheit, Meinungen zu transportieren. Wikileaks publiziert aber keine Meinungen, sondern ausschließlich vertrauliche Dokumente. 1948 hat kein Staat mit der Deklaration der Menschenrechte an die Legitimation der Publizierung vertraulicher, staatlicher Dokumente gedacht. Die Möglichkeiten des Internets konnte man sich sowieso nicht vorstellen.
Die Menschenrechte erheben in der Präambel die „Notwendigkeit, die freundschaftlichen Beziehungen der Nationen zu fördern“. Wikileaks tut das Gegenteil und schürt Misstrauen. Um nicht falsch verstanden zu werden, Leaks und Whistleblower muss es geben, um staatliches Fehlverhalten zu offenbaren: Spiegel-Affäre, Watergate und vieles anderes mehr. Aber, dass die Menge der veröffentlichen Dokumente „einen weit tieferen Einblick in staatliches Handeln als bisherige Veröffentlichung in klassischen Medien“ liefern soll, glaubt ihr hoffentlich selbst nicht. Ein unkommentiertes Dokument, das eine Person ins Zwielicht stellt, ist nämlich was ganz anderes als ein sauber recherchierter Artikel.
Ihr habt ja völlig recht, dass der Journalismus die Aufgabe hat, den Staat zu kontrollieren und über die Mechanismen des Regierungshandelns aufzuklären! Das ist eure ureigenste Aufgabe. Irgendwelche ins Netz gestellten Dokumente erfüllen diese Funktion nicht. Der Bruch der Vertraulichkeit bedarf der moralischen Rechtfertigung. Sie ist immer dann gegeben, wenn die Herstellung der Öffentlichkeit das höherwertige Gut ist. Darum schert sich Wikileaks nicht.
DIETRICH EINERT, Düsseldorf