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Archiv-Artikel

Wellness für die Industriearbeiter

Das Museum „La Piscine“ im nordfranzösischen Roubaix wurde als Art-déco-Schwimmbad für die Textilarbeiter in den tristen Wohnanlagen konzipiert. Heute ist es ein Zeitzeuge der industriellen Revolution mit sakralem Ambiente

von REINER LEINEN

Die Badehose des Herrn mit dem schütteren Haar dort oben auf dem Dreimeterbrett kneift unter den Achseln. Der zaudernde Blick gilt dem kühlen Nass und streift die Büste des Machers, dem das alles hier zu verdanken ist. Und drum herum kreischen und toben die Kinder. Die Szenerie, die so wirklichkeitsnah aussieht und so authentisch nach modernem Spaßbad klingt, ist ein historisches Dokument im Eingangsbereich von „La Piscine“, ein Schwarzweißfoto, sechs mal sechs Meter groß und vom Charme der frühen Jahre der Fotografie und dem Gelbstich unvollkommener Fixierarbeiten beseelt. Das Getöse der Kinder kommt aus unsichtbaren Lautsprechern, und die Büste huldigt Albert Baert, seines Zeichens geistiger Vater des „schönsten Schwimmbads Frankreichs“, das zu einem der schönsten Museen der Grande Nation mutiert ist.

Albert Baert, Architekt aus dem nahen Lille, war ein Sozialvisionär des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Schon lange waren ihm die allenthalben spürbaren Klassenunterschiede ein Dorn im Auge, hier bourgeoise Opulenz, dort der beschwerliche, entbehrungsreiche Alltag der Arbeiter in den Textilfabriken und die unwürdigen hygienischen Bedingungen eines Lebens im Schatten der tristen Wohnsiedlungen. Man schrieb das Jahr 1923, die Region Nord-Pas-de-Calais war im Zuge der industriellen Revolution zu einem Zentrum der Textilindustrie avanciert, die Bevölkerung hatte sich binnen weniger Jahrzehnte verzehnfacht, die Stadt war zwischenzeitlich größer als London. Vor diesem Hintergrund gebar Albert Baert eine Idee, die beim damaligen Bürgermeister Jean Lebas auf offene Ohren stieß: dem Volk ein Bäderhaus zu schaffen, das elementare körperliche Bedürfnisse nach Reinlichkeit bedienen und den erbärmlichen hygienischen Verhältnissen der Zeit Rechnung tragen sollte. Baerts oberstes Gebot, dass die arbeitenden Menschen das Bad annehmen mögen, durchzog seine Planungen bis ins letzte Detail.

So entstand in den folgenden zehn Jahren das Schwimmbad „La Piscine“, das anders als alle anderen öffentlichen Bauwerke der Zeit nicht aus hellem Sandstein gefertigt war, sondern eine Fassade aus roten Ziegeln erhielt und sich so optisch den Fabriken und Wohnsiedlungen der Arbeiter anpasste. Dadurch würde sich, so Baerts Philosophie, die Hemmschwelle der Arbeiter dieser gesellschaftlichen Innovation gegenüber am ehesten abbauen lassen. Sie würden sich zu Hause fühlen können. Zugleich bekam sein Projekt – auch das Ausdruck seiner Wertschätzung für das arbeitende Volk – einen zutiefst sakralen Charakter. Der Gebäudekomplex wurde nach dem Vorbild der Zisterzienserklöster rund um einen Rosengarten errichtet, das Basilikaschiff um das Schwimmbecken entsprach dem einer Klosterkapelle, die Glasfenster an den Stirnseiten, die auf- und untergehende Sonne stilisierend, gemahnten an die Farbigkeit und Symbolkraft von Kirchenfenstern.

„La Piscine“ war ein unvorstellbarer, geradezu ketzerischer Luxus in einer Zeit des Darbens für weite Teile der Bevölkerung – als Rundumwohlfühlpaket gedacht: Es gab Duschen und Massageeinrichtungen, eine Sauna und das eigentliche Schwimmbecken von olympischen Ausmaßen. Die Kinder erhielten Schwimmunterricht, es wurde frisiert, manikürt und pedikürt, Besucher konnten durch den Garten flanieren und frische Luft einatmen, sich im angrenzenden Restaurationsbetrieb laben .

Albert Baerts Konzept ging auf, die Menschen kamen in Strömen. „La Piscine“ wurde zum Sinnbild einer klassenlosen Gesellschaft und blieb es mehr als fünfzig Jahre lang, bis es im Jahre 1985 aus Sicherheitsgründen schließen musste.

Die Entwicklung Roubaix’ und der Region von einer Industriemetropole zu einer Dienstleistungsgesellschaft verhindert in der Folgezeit den Abriss des Bades. Das Schwimmbad wird von Jean-Paul Philippon zu einem „musée dans le bain“ umgebaut und im Herbst 2001 seiner neuen Bestimmung übergeben. Philippon gelingt es, den Charakter des Bades und das Schwimmbecken selbst zu erhalten. Den Beckenrand zieren heute mannshohe Skulpturen von Ikonen der Arbeiterschaft, viele Exponate – einschließlich einer Sammlung von Musterbüchern mit über 50.000 Stoffmustern – erinnern zudem an die textile Vergangenheit der Stadt, die sich außerhalb des Museums heute nur mehr in der generierten Form zweier gigantischer Fabrikverkaufszentren manifestiert.

Das Museum beherbergt eine Kunstschule, die beispielsweise Patienten der umliegenden Hospitäler in ihre Arbeit einbezieht, und orientiert sich an neuesten museumspädagogischen Techniken: Der Rundgang ist als „parcours des cinq sens“, als Fest für die Sinne, konzipiert, bei dem der Besucher hören, fühlen und sehen kann und immer wieder mit Geruchsproben in eine andere Welt entführt wird. Nur schwimmen kann er hier nicht mehr.