DAS GRINSEN DER SCHWEIGENDEN GENIESSER
: Für Weihnachtskranke sind Hühner gut

VON JURI STERNBURG

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

Warum sie ausgerechnet jetzt eine Gabel braucht, weiß kein Mensch. Ist auch uninteressant. Ich renne ins erstaunlich nahe gelegene Nebenhaus, schließlich kann ich ihr diesen Wunsch logischerweise nicht abschlagen. Die erste Tür, die ich öffne, ist eine unscheinbare Holzpforte, dahinter verbirgt sich ein großer, mit riesigen Kerzenleuchtern behangener Theatersaal. Auf der Bühne Schwarzvermummte in mittelalterlichen Beinkleidern, venezianische Masken bestimmen die Szene, es dröhnt Mozarts berühmter „Carmina Burana“-Chor. Nur Gabeln finde ich hier keine.

Hinter der nächsten Tür liest Brigitte Grothum („Die Drei von der Tankstelle“) aus Pinochets Tagebuch, die Besucher sitzen zusammengedrängt unter meinem Hochbett aus Kindestagen. Einer der Zuhörer ist mein verhasster Widersacher aus der Grundschule, der, auf den die Mädels immer so flogen. Auf Nachfrage verneint er das Mitführen einer Gabel vehement. Es wird Zeit, aufzuwachen, sagt mir mein Verstand, und „zack“ liege ich in meinem Bett und betaste meine fiebrige Stirn.

Schweiß läuft die Schläfen herunter, der Rachen fühlt sich an, wie das Gesicht von Uschi Glas aussieht. Die Weihnachtskrankheit hat Tradition bei mir. Aber „wat mutt, dat mutt“, und so quäle ich mich in Richtung Dusche.

„Zum Verzehr von Alkoholika und Hühnerknubeln wird geladen“, hieß es unverhohlen in einer Einladung, und mein erster Reflex – das Googlen des selbigen, mir unbekannten Wortes – war sogleich von Erfolg gekrönt. Der „Hühnerknubel“ ist nichts weiteres als die Bezeichnung eines Hühnchenschenkels in der relativ neuen Kultserie „New kidz“. Auch wenn sich der Humor der Pseudoproleten meinem Zwerchfell nicht annähern konnte, für diese Wortschöpfung verdienen sie Respekt, macht sie doch schon allein phonetisch unglaublich viel Sinn.

Hühnerknubel verdrückend saßen wir also am Tisch, knusprige Hautfetzen hingen von Mundwinkeln herab, es knirschte in der ein oder anderen Zahngegend. Einer präsentierte stolz sein neues Iphone, welches der Weihnachtsmann ihm durch den Kamin geworfen hatte. Jemand kommentierte süffisant: „In einer Überflussgesellschaft gibt es alles im Überfluss, besonders Überflüssiges!“

Der so reichlich Beschenkte wollte sich erklären, doch seine Vorstellung hätte selbst Veronica Ferres die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Manchmal muss man auch einfach schweigen und genießen können, so hätte ich normalerweise gedacht.

Diese schweigenden Genießer jedoch nehmen gerade zu Weihnachten etwas überhand. Die Tresen der uns aus ungeklärten Gründen immer noch aufnehmenden Wirtschaften ächzen am 24. unter dem Druck der unzähligen stillen Genießer. Die Kippenschachtel in der einen, den Whiskey Sour in der anderen Hand, sitzen sie neben einem und lächeln. Ausnahmsweise lächeln sie einmal. Das ganze Jahr über sieht man sie griesgrämig vor sich hin motzen, die leere Arroganz als Lebensmotto verinnerlicht, Gott und die Welt verfluchend, nur zu Weihnachten, da umspielt ein gequältes Grinsen ihre Mundpartie. Und alles nur um dem Klischee des schlecht gelaunten Weihnachtssingles nicht zu entsprechen, um keinem Bild gerecht zu werden, das sie die vorangegangenen 364 Tage schon längst überzeichnet haben. Den Rest des Jahres ist schlechte Laune cool, aber heute ist es genau andersrum.

„One Poem a day keeps the money away“, sagt die Frau namens K. plötzlich und erweckt mich aus meinem kränklichen Tagtraum. So langsam weiß ich selber nicht mehr, ob ich wach bin oder träume, alleine am Tresen sitze oder in der Gemeinschaft Knubel vertilge. Frau K. mag wohl recht haben mit ihrer Erkenntnis, aber Weihnachten kann man auch mal ohne Kunst kein Geld haben, besonders bei den derzeitigen Medikamentenpreisen.