: Reif für die Inseln
KUNST Die Doppelausstellung „Fremde Schönheit“ und „Die Kunst der Zeitgenossenschaft“ bietet eine Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit ästhetischer Welterfahrung
Von Jan-Paul Koopmann
Der Kontrast zwischen den beiden Ausstellungen im Kupferstichkabinett der Kunsthalle könnte kaum größer sein. Zum einen hängen dort die frühneuzeitlichen Kupferstiche William Hogarths: düstere urbane Szenen voller Ausschweifungen und Elend, soziales Leben auf der Höhe seiner Zeit. Gegenüber dann die Sehnsucht nach verlorener Ursprünglichkeit in exotischen Naturszenarien, festgehalten in farbenfrohen Aquarellen. Selbst wenn die Ausstellungen nicht durch verschiedene Wandfarben voneinander abgehoben wären, könnte man sich zwischen ihnen nicht verirren.
Unter dem Titel „Fremde Schönheit“ sind Bilder von August Macke und der Künstlergruppe „Die Brücke“ zu sehen. Sie dokumentieren die Künstlerreise als Flucht aus beengten Verhältnissen. Raus aus der Stadt und aus den Klamotten: Akte in unberührter Natur. Seit 1909 unternahm die Brücke regelmäßige Ausflüge ins Grüne.
Die Indigenen Neuguineas und idyllische Südseelandschaften verstand Emil Nolde als natürlichen Urzustand. Obgleich er den Kolonialismus seiner Zeit in Worten kritisierte, ist er auf den Bildern nicht zu sehen. Stattdessen ruhige Gesichter: stark reduziert auf Ausdruck und traditionellen Schmuck. Der grafischen Einfachheit und schlichten Schönheit entspricht die wenig schmeichelhafte Reduktion des Individuums auf ihr vermeintliches Wesen.
Noldes ehemaliger Wegbegleiter Erich Heckel ersparte sich solche Auseinandersetzungen mit tatsächlicher Fremde und suchte die Exotik an der Flensburger Förde. Hier malte er Badende als entrückte Aquarelle in Beige und hellen Brauntönen. Die Akte sind mit leichter Hand gearbeitet und halten Dynamik fest, statt sich in Details zu verlieren.
So relevant diese stilbildenden Reisen für den Expressionismus gewesen sein mögen, so leicht verdaulich sind sie anzuschauen. Auch wenn in den Malereien und Schnitten noch eine Idee des Ausbruchs aus der wilhelminischen Prüderie aufgehoben ist, erscheint gerade dieser heute als bloßes antibürgerliches Getue – als Rebellion gegen eine Welt, die sie längst absorbiert hat.
Erfrischender die Nachbarausstellung: „Die Kunst der Zeitgenossenschaft“. Das ist erstaunlich, zumal die Exponate anlässlich des 250. Todestages ihres Urhebers William Hogarth aus dem Magazin geborgen wurden. Auf den Stichen und Radierungen zu sehen ist das Londoner Straßenleben zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Mit scharfem Blick für das Szenische zeigt Hogarth das Leben an den Rändern der Gesellschaft: Huren, Trinker, Glücksspieler.
Auch wenn Hogarth die Exzesse in mahnender Absicht abbildet, macht das Elend heute Spaß wie ein uriger Piratenfilm. Das kommt nicht von ungefähr: Die Bildsprache ist kanonisiert, nachgeahmt und persifliert worden. Hogarths Selbstverständnis als Genrebegründer kommt das gerade recht. Als „modern moral subjects“ bezeichnete er den Versuch, der Historienmalerei einen neuen, dezidiert englischen Touch zu geben und von den kontinentalen Mythen- und Heiligenbildnissen abzuheben.
Der moralische Fingerzeig ist immer im Bild und zielt auf die drängenden Fragen seiner Zeit. Reihen wie „Der Weg eines Liederlichen“ zeigen Ausschweifungen als notwendigen Niedergang. Je mehr Lebensfreude aus den teils satirischen Details spricht, umso klarer wird: Das geht nicht gut aus.
In erfrischender Naivität positionierte sich Hogarth so in einer moralphilosophisch geführten Sozialdebatte. Er pochte auf die Tugend, während Zeitgenosse Bernard Mandeville eine der frühsten Fassungen marktliberaler Lebenslügen zusammendichtete: die Bienenfabel, nach der es für das Volk am besten läuft, wenn jeder nach seinem persönlichen Vorteil strebt.
Und so kommen beide Ausstellungen auf eigenwillige Weise doch auf einen gemeinsamen Nenner. Die Welt wäre eine bessere, würde darin anders gelebt: ursprünglicher mit den Brücken-Insulanern, oder moralischer mit Hogarth.
Beide Strategien sind historisch gescheitert und haben auf Irrwege geführt. Körperkult und Massentourismus hier, Disziplinierungsterror und protestantische Lustfeindschaft dort. Nur selten kommen Stichwortgeber des Unappetitlichen so unverblümt daher. Und nur selten ist es vergnüglicher, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
■ bis 17. August, Kunsthalle, Kupferstichkabinett