: Einleuchtende Verhältnisse
Glühend poetischer Realist: Die Werkschau mit Arbeiten des 1996 verstorbenen Dan Flavin in der Pinakothek der Moderne München zeigt mehr als einen Minimalisten des Neonlichts
von IRA MAZZONI
„Es ist sinnlos, etwas mit mehr zu machen, wenn es auch mit weniger geht.“ So sehr Dan Flavin sich diese Weisheit des Scholastikers Wilhelm von Ockhams zu eigen machte – so wenig war es ein Fehler, dass die ambitionierte Kuratorin Corinna Thierolf alles darangesetzt hat, die Werkschau des Lichtkünstlers in München mit Noch-Mehr auszustatten. Nach Stationen in Washington, Forth Worth, Chicago, London und Paris zeigt die Pinakothek der Moderne das Oeuvre in nie gesehener Dichte.
Die gesamte Abteilung für zeitgenössische Kunst wurde geräumt, um den fluoreszierenden Stabwerken Flavins Platz zu machen. Erstmals wieder vereint: Alle acht Icons – Frühwerke, die witzig-ironisch die Bildtradition des Abendlandes be- und hinterleuchten. Auf der triumphalen, 140 Meter langen Diagonalachse des Hauses aufgereiht: 24 von insgesamt 50 weißen „monuments“, die dem Konstruktivisten und Utopisten Wladimir Tatlin gewidmet sind. Exklusiv rekonstruiert: Die erste Münchner Flavin-Ausstellung aus dem Jahr 1968 in der Galerie von Heiner Friedrich. Noch nie wurde einem Künstler in der Pinakothek so viel Raum geschenkt. Und noch keiner Kunst ist es gelungen, dem unerbittlich starren Architekturrahmen von Stefan Braunfels so viel Atem zu verleihen.
Erst die Fülle der Lichtarbeiten macht deutlich, dass es bei Flavin um mehr geht als um immer neue Konstellationen handelsüblicher Leuchtstoffröhren auf Wänden, in Raumecken und auf Böden. „It is what it is“ und „You see what you see“, erweisen sich wieder einmal als irreführende Mantras der Moderne. Stattdessen gibt es visuelle Poesie zu entdecken: kunsthistorisch, philosophisch und politisch höchst reflektiert. Erste Indizien geben die Aquarelle: Hell/Dunkel-Randzeichnungen zu kaligrafisch wiedergegebenen Zeilen aus James Joyce’ „Chamber Music“. Oder: konkrete Poesie in der Art des viel bewunderten Apollinaire „fluorescent / poles / shimmer / shiver / flick / out / dim / monuments / of / on / and /off /art“. So dichtet Flavin und fasst das Thema Licht erst in Worte, bevor er es mit profanen Glühbirnen an monochrome Boxen montiert. Auch bei späteren Lichtbildern eröffnet jede Widmung den Artefakten einen literarischen Tiefenraum.
Eine große Ikone der Schule von Nowgorod aus dem 18. Jahrhundert, entdeckt im Metropolitan Museum, brachte Flavin die Eingebung, Licht wieder ganz materiell werden zu lassen, es goldgrundgleich dem Betrachter entgegenzubringen – nur bar jeder Transzendenz. Gleichwohl ist Licht in der Kunst eben nicht irgendeine Materie – auch wenn sie „nur“ aus einer diagonal, im 45-Grad-Winkel auf die Wand gesetzte gelben Neonröhre besteht. Immerhin betitelte Flavin diese puristische Installation ursprünglich mit: „the diagonal of personal ecstasy“. Sicher, die Verzückung ist ironisch gemeint, bezieht sich auf Lichtstrahlen kirchlicher Erweckungsbilder – und zugleich auf den eigenen künstlerischen Durchbruch. Mit der Diagonale vom 25. Mai 1963 markiert Flavin seine absolute Hinwendung zu einer zeitgenössischen Lichtkunst, die mit Mitteln der Leuchtreklame inspirierende Gedankenkunst liefert.
Man muss schon in Kunstgeschichte und Philosophie ähnlich belesen sein wie Flavin, um alle Hinweise erhellend zu entschlüsseln. Etwa der Bezug auf Constantin Brancusi, dessen Säulenkunstwerk auf die Unendlichkeit gerichtet war. „The nominal three“ ist eine Lichtinstallation, die erst eine, dann zwei, dann drei weiße Neonröhren nebeneinander an die Wand heftet. Auch dies ist, wie die Widmung an den mittelalterlichen Franziskanermönch Ockham ahnen lässt, eine Realie, die ins Unendliche fortgesetzt werden kann, ohne einen Gottesbeweis zu liefern. Ab 1966 hängt Flavin zum Quadrat gefügte Neonröhren vor Raumecken, in denen sich das farbige Licht indirekt mischt. „Herrgottswinkel der Moderne“ nennt Tierolf diese Arbeiten, die nicht auf religiöse Volkskunst rekurrieren, sondern eben auch auf das Allerheiligste der Avantgarde: Malewitschs „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“. Letztlich schafft auch die massive, grüne „Barriere“, die 1977 für Kunsthändler und Förderer Heiner Friedrich entstand, eine schmerzende Lichtgrenze zwischen dem Betrachter und dem jenseits liegenden, abgesperrten, leeren Reflektionsraum.
Flavins Kunstwerke sind mehr als schön. Sie verharren nicht im Gegenüber, sie vereinnahmen Raum und Betrachter. Bisweilen überfallen sie einen hinterrücks mit politischen Botschaften: „Monument 4 those wo have been killed in ambush“ zielt wie eine gespannte Armbrust in glühendem Rot auf jeden, der den Raum betritt und verlässt. Und wehe, man begibt sich unter diese Eckinstallation, dann legt sich ein großes Kreuz wie ein Grabdeckel über einen. Dieses Denkmal für alle aus dem Hinterhalt Ermordeten entstand während des Vietnamkriegs und weist als existenzialistische Mahnmal weit über dieses Ereignis hinaus.
In jedem Fall ist Flavins Kunst nicht so unpolitisch, wie man immer vermutet hat. Das macht auch die Installation ringförmiger Lampen deutlich, die dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten George McGovern gewidmet ist, der 1972 gegen Nixon antrat. Die Montage aus kaltweißen und warmweißen Lichtringen lässt an die Medienschlacht denken. Ein leiser ironischer Unterton kommt bei dieser chiffrehaften Inszenierung durchaus zum Tragen. So ist auch beim Abschreiten der „monuments“, die sich auf Tatlins Entwurf eines „Denkmals der dritten Internationale“ beziehen, ein feiner Humor zu spüren – größer als das Empire State Building sollte das Revolutionsdenkmal werden. So beginnt Flavin die Reihe der kleinen Lichtmonumente mit der bekannten Hochhausformation. Mit demselben Neonröhren-Baukasten werden dann auch Raketen angedeutet. Manches Lichtobjekt wirkt gestelzt, andere haben bedrohliche Schieflagen. Kalt weiß reflektiert Flavin die fatalen Ideen des 20. Jahrhunderts. Und es ist ein intellektueller wie visueller Genuss ihm dabei zu folgen.
Bis 4. 3. Pinakothek der Moderne, München