DIE NEUE TÜRKEI Demo-Freiheit nur für Islamisten

ISTANBUL Zehntausende Polizisten verhindern gewaltsam die Proteste zum Jahrestag des Gezi-Aufstands. Gleichzeitig protestieren Islamisten völlig ungestört gegen Israel

ISTANBUL taz/dpa/afp | Jede Kundgebung der Erdogan-Gegner wurde am Wochenende im Keim erstickt. Tausende Erdogan-treue Israelhasser jedoch konnten sich unter der Protektion der Regierung ungehindert in Istanbul versammeln. Im Stadtteil Sultanahmet erinnerten sie an die Toten der „Gaza-Solidaritäts-Flotte“, die vor genau vier Jahren von der israelischen Marine im Mittelmeer gestoppt worden war. Dabei skandierten sie: „Mörder Israel, du wirst die Rechnung bekommen!“

Die landesweiten Proteste zum Jahrestag des Gezi-Aufstandes hatte die Polizei hingegen gewaltsam unterdrückt. Über 25.000 Polizisten waren im Einsatz; Sicherheitskräfte setzten in der Umgebung des abgeriegelten Taksim-Platzes in Istanbul Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse ein. Polizisten in Zivil prügelten mit Schlagstöcken auf Demonstranten ein. Auch in anderen Städten gab es heftige Auseinandersetzungen, in Ankara auch am Sonntag.

Der Korrespondent des US-Senders CNN, Ivan Watson, wurde während einer Liveschaltung vom Taksim-Platz von der Polizei festgesetzt. Ein Polizist habe ihn dabei getreten, berichtete Watson über Twitter. Er und sein Team wurden nach einer halben Stunde wieder freigelassen.

Die Nachrichtenagentur Dogan berichtete am Sonntag, in Antalya in der Südtürkei fordere die Staatsanwaltschaft für fünf Teilnehmer an den Gezi-Protesten im letzten Jahr zwischen 11 und 98 Jahre Haft. Ihnen werde unter anderem Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen.

Am Wochenende besuchte auch der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, die Türkei. Er forderte einen „neuen Aufschlag“ in den belasteten deutsch-türkischen Beziehungen. „Wir wollen der Türkei ein Paket anbieten“, sagte Roth. Teil davon könnten Visumerleichterungen für Türken sein. Insgesamt habe das Land bei der Modernisierung Fortschritte gemacht. „Die Türkei ist weiter als ein Drittel der EU.“ Abgesehen von der hohen Inflationsrate erfülle die Türkei sogar die Maastricht-Kriterien. Roth plädierte dafür, dass die EU mit dem Beitrittskandidaten Verhandlungen über Kapitel 23 und 24 eröffnet, bei denen es um Justiz und Rechtsstaatlichkeit geht.

Erst am Freitag hatte das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter einbestellt. Dem Diplomaten sei das „Befremden über Äußerungen aus der türkischen Regierung deutlich gemacht worden“, hieß es am Freitag im Außenministerium. Erdogan hatte den Grünen-Politiker Cem Özdemir heftig angegriffen.

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