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Archiv-Artikel

Kein Staub in Schweden

AUFWACHSEN Dies ist eine Vater-Tochter-Geschichte. Es wird ferngesehen und aufgeräumt, sich gestritten und wieder vertragen

Jochen Schmidt

■ Stationen: Schmidt, geboren 1970 in Ostberlin, gründete die Berliner Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“. 2007 wurde er als Kandidat des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs nominiert. Kürzlich erschien „Weltall. Erde. Mensch“ (Voland & Quist).

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Silvester war in meinem Leben eine Serie von Pleiten, ich mache deshalb keine Pläne mehr. In diesem Jahr werde ich in Mannheim sein, wo ich mit meiner Tochter meine Eltern besuche. Wir werden noch mehr als sonst fernsehen und uns bemühen, uns nicht zu viel zu streiten.“ Foto: Tim Jockel

VON JOCHEN SCHMIDT

Unterwegs zum Kindergarten, mal wieder zwanzig Minuten zu spät, ich reize es immer weiter aus. Man kommt immer so in Gedanken dort an und soll plötzlich umschalten. Beim Einkaufen dann eine SMS von Greta, ob ich mit Trixi in eine ihrer Tanzaufführungen kommen will. Ich erschrecke immer, wenn sie mir schreibt. Sie denkt wohl, zwei Jahre nachdem sie mich nicht wollte, macht es mir nichts mehr aus, sie tanzen zu sehen? Mir zittern schon bei der Vorstellung die Hände. Trixi plappert ununterbrochen, und ich bin bedrückt. Nein, wir kaufen keinen Pudding mit Smarties. Nein, auch nicht, wenn die Oma das gemacht hat. Ist mir egal, ob Mama lieber ist als ich.

In der Videothek will sie nicht „Madita“ ausprobieren, es muss zum fünften Mal „Lotta aus der Krachmacherstraße“ sein. Wie sollen wir auf die Art meine ganzen schönen Kinderfilme schaffen, bevor sie erwachsen ist? Ich bin noch so erschüttert von Gretas SMS, dass ich Trixi drei Folgen gucken lasse, weil ich nicht aufhören kann aufzuräumen. Dinge wegzuwerfen ist der einzige Fortschritt, für den ich in meinem Leben noch selbst sorgen kann.

Seltsam, dass Trixi von Anfang an Anspruch auf den Fernsehsessel hatte, in dem immer mein Vater saß. Erst als ich ihn geschenkt bekam, hatte ich ihn eine Weile für mich. Bis Trixi kam. Jetzt sitze ich auf ihrem Kinderhocker und sie im Fernsehsessel.

Lotta will ein Fahrrad zum Geburtstag, angeblich ist sie noch zu klein, in Wirklichkeit haben die Eltern aber schon eins für sie besorgt. Sie hat Schnupfen und will trotzdem mit den Geschwistern Bonbons einkaufen gehen. Meine Eltern schenken mir kein Fahrrad, und ich muss ständig mit Schnupfen einkaufen gehen. Aber Trixi ist wie hypnotisiert, sie will bestimmt auch in Schweden leben wie ich als Kind. In Schweden gibt es keine echten Sorgen. Es gibt in benachbarten Familien immer genauso viele Mädchen wie Jungs. Die Erwachsenen sind ausgeglichen und verständnisvoll, nie fällt ein lautes Wort. Zur Not gibt es in jeder Nachbarschaft eine nette Tante, die froh ist, wenn Kinder zu Besuch kommen, weil sie so gerne Kuchen bäckt.

Und obwohl in Schweden alles so sauber und aufgeräumt ist wie in Deutschland, wirkt es dort irgendwie nicht so bedrückend, sondern auf eine skandinavische Art heiter. Vor allem liegt in ganz Schweden kein Staubkorn.

Trixi träumt von Schweden, und ich räume auf. Die beiden Stapel neben dem Bildschirm. Links Verträge, Rechnungen, BfA-Briefe, unangenehme Zettel, die ich unter alles schiebe, um sie nicht ständig zu sehen. Rechts unfertige Texte, Zeitungen, die Steuererklärung, Visitenkarten von Leuten, an die ich mich nicht mehr erinnere. Ich trage die Stapel ab, dabei komme ich immer bis zum selben Punkt, irgendwo in der Mitte, wo mich mein Elan verlässt. Dann lege ich die beiden Stapel übereinander, schön auf Kante, geschafft.

Bücherstapel, Zeitungsberge, Zettelhaufen, Staub. Und Greta tanzt im Adlon für reiche Russen, während ich Grießbrei koche und Kinderstrumpfhosen flicke. Außerdem will Trixi keine Weintrauben mit Kernen. Ich hatte in der DDR nie Weintrauben, sage ich ihr, aber das wirkt nicht. Man kann die Kerne doch ausspucken. Nein, keine Weintrauben mit Kernen. Probier doch mal eine. Nein. Wenigstens eine. Nein. Ich durfte auch nie drei Folgen von irgendwas hintereinander gucken, man musste immer eine Woche warten. Man hätte die ganze Woche die Augen zumachen müssen, um den Effekt von heute zu genießen.

Es ist erstaunlich, wie man das Kind ausschalten kann, indem man den Fernseher einschaltet. Schöner wird es für sie nie im Leben, von nun an geht’s bergab. Schule, Pubertät, der erste Arbeitsvertrag, Kinder, Scheidung, Altersheim. Es tut mir schrecklich weh, diese Wahrheit zu wissen. Ich könnte ja auch den Rest meiner Tage fernsehen, allein „Das Haus am Eaton Place“ hat noch hundert Folgen, die in Deutschland nie liefen. Warum hatte ich eigentlich jemals Ehrgeiz im Leben? Wahrscheinlich weil ich Geld brauchte. Wieso bin ich bei meinen Eltern ausgezogen? Damit ich das Fernsehprogramm selbst bestimmen kann. Und wie weit reicht mein Ehrgeiz noch, jetzt, wo ich alles habe, wovon man in der DDR nur träumen konnte?

Und überall Staub. Staub auf Büchern, die ich herausgelegt habe, weil ich sie unbedingt lesen will. Und auf Büchern, die ich schon gelesen und vollständig vergessen habe. Ständig hat man von irgendetwas keine Ahnung, ich will eigentlich nie wieder aus dem Haus gehen und nur noch lesen. Aber ich brauche auch einen, der sich dafür interessiert, was ich alles weiß. Trixi kann ich dafür nicht nehmen. Belehre nie dein Kind. Was du ihm beibringst, kann es nicht mehr selbst entdecken, sagt Remy Largo. Den Rest meiner Tage mit einem Stasi-Offizier in einem Verhörzimmer, das wäre es, und sie müssen alles mitschreiben, was ich sage, und sich für jedes noch so kleine Detail in meinem Leben interessieren.

Warum nennen sie Lotta eigentlich immer „Lottakind“? Macht man das in Schweden mit Kindern so? Immer ist da eine nette Tante, die fragt: „Warum guckst du denn so traurig, Lottakind?“ Weil Lotta ihr heimlich das Fahrrad aus dem Schuppen geklaut hat und damit hingefallen ist. Sie war eben der Meinung, dass sie schon groß genug ist zum Fahrradfahren. Und jetzt wird sie auch noch getröstet. In Schweden ist das so, hier, wo kein Staub fällt.

Reihenweise Idioten sollen sich unsterblich in sie verlieben und darüber zu besseren Menschen werden

Dagegen diese Kinder-CD von einem Fredrik Vahle, die mir eine Freundin aus Stuttgart geschenkt hat, angeblich so aktuell wie vor 30 Jahren. Menschen, die kein Talent zum Liedermacher haben und das an Kindern auslassen. Und das Ergebnis klingt wie Musikantenstadl, mit Reimen über Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit und Gastarbeiter. Wenn die Westkinder mit so etwas aufgewachsen sind, erklärt sich mir auch, dass es dort immer wieder zu Fällen von Kannibalismus kommt.

„Das ist ein schöner Tag! Das ist ein wunderschöner Tag, weil Lotta heut Geburtstag hat, Hurra, hurra, hurra!“, singt die Familie vom Lottakind, und Trixi singt es auch, beim Abendbrot, beim Zähneputzen und im Bett, und ich habe jetzt einen Ohrwurm. „Hurra, hurra, hurra …“

Dann sitze ich allein zwischen meinen Büchern, Trixi schläft und rast dabei ihrem Unglück entgegen. Schule, Pubertät, Altersheim. Ich hoffe, sie macht später alle Männer unglücklich und nicht andersrum. Reihenweise Idioten sollen sich unsterblich in sie verlieben und über diese Erfahrung zu besseren Menschen werden.

Eigenartigerweise wirkt Fernsehen immer beruhigend, selbst wenn man eine Serie über Drogengangs in den USA sieht, wo in den Städten praktisch Kriegszustand herrscht. Wer behauptet eigentlich, dass man in der DDR weniger frei war als in West-Baltimore? Andererseits wandern die wenigsten schwarzen Ghettobewohner nach Kuba aus. Vielleicht wird Kuba bei ihnen einfach nicht auf der Karte vom Schulbuchatlas abgedruckt, wie bei uns damals Westberlin?

Trixi guckt Schweden, und ich gucke USA. Und wir leben irgendwo in der Mitte.