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Archiv-Artikel

Der Preis der Solidarität

Dschemilew saß insgesamt 15 Jahre in sowjetischen Lagern und Gefängnissen

Mit Einreiseverboten kennt sich Mustafa Dschmilew aus. Jahrzehntelang durften die Krimtataren ihre Heimat nicht betreten, von der sie auf Befehl Stalins im Mai 1944 wegen angeblicher Kollaboration mit den deutschen Besatzern deportiert worden waren. Als Dschemilew Ende der siebziger Jahre wenigstens seinen Vater in der alten Heimat begraben wollte und bei Kertsch mit dem Leichnam auf die Halbinsel übersetzen wollte, versperrte der KGB den Weg. Angeblich wegen Nichteinhaltung hygienischer Standards – der Leichnam war traditionell nur in ein Tuch gewickelt – führte kein Weg auf die Krim. Dschemilew musste seinen Vater in Südrussland begraben.

Dschemilew war damals schon einer der bekanntesten Bürgerrechtler der Sowjetunion, der sich unermüdlich für ein Rückkehrrecht der Krimtataren einsetzte. Insgesamt 15 Jahre saß er deswegen in sowjetischen Lagern und Gefängnissen. Befreundet mit dem Bürgerrechtler Andrej Sacharow gründeten beide 1969 die „Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion“.

Mit der Perestroika unter Michail Gorbatschow wurden auch die Krimtataren rehabilitiert. Viele kehrten daraufhin in ihre Heimat zurück. Auch Mustafa Dschemilew. Er wurde einer der bedeutendsten Repräsentanten und ist bis heute einziger krimtatarischer Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Die russische Annexion der Krim verurteilte Dschemilew mit klaren Worten – auch im Telefongespräch mit Wladimir Putin.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Am 22. April verließ Dschemilew die Krim, um nach Kiew zu reisen. Am Kontrollpunkt reichten ihm russische Grenzer ein Dokument, sein Inhalt: Bis zum 19. April 2019 dürfe er nicht mehr in die Russische Föderation einreisen, inklusive Krim. Dschemilew ist seitdem wieder verbannt.

Der 71 Jahre alte Mustafa Dschemilew, der eher leise und nachdenkliche Töne anschlägt, ist die größte moralische Autorität der Krimtataren – aber nicht nur dort. Mit einer Million Euro ist der neu ins Leben gerufene Solidarnosc-Preis die am höchsten dotierte Auszeichnung der Regierung Polens. Mit dem Preis sollen Personen geehrt werden, die sich im Geist der Solidarität für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Mustafa Dschemilew nahm am Dienstag als erster Preisträger die Auszeichnung entgegen.

GABRIELE LESSER/THOMAS GERLACH