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Archiv-Artikel

Mohammed trifft auf Schlingensief

FREIE MEINUNGSÄUSSERUNG Die Ausstellung „Freedom of Speech“ im n.b.k. versammelt künstlerische Positionen zum Thema Meinungsfreiheit. Doch statt Fragen zu beantworten, träumt sie lieber von der ganz großen Wahrheit

Wahrheit ist, analog zur Freiheit in Rosa Luxemburgs Diktum, immer auch die Wahrheit der Andersdenkenden. Und schon befinden wir uns mittendrin im Mentalitätskonflikt, im Karikaturenstreit, im Kampf der Kulturen – je nach Entflammbarkeit der individuellen Wahrheit

VON MARCUS WOELLER

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ So will es das Grundgesetz. Doch Artikel 5 befindet sich auf Kollisionskurs mit anderen Grundrechten.

An diesem Punkt, wo freie Meinungsäußerung und andere persönliche und gesellschaftliche Freiheiten aufeinanderprallen, zwischen freier Rede, noch freierer Kunst und dem Recht auf Selbstverwirklichung setzt eine Ausstellung an, die der Neue Berliner Kunstverein und der Hamburger Kunstverein gemeinsam geplant haben. „Freedom of Speech“ vereint künstlerische Exponate mit Dokumenten medialer Berichterstattung. Die berüchtigten Mohammed-Karikaturen treffen auf politische Plakatkunst der 1970er Jahre. Christliche Pop Art misst sich an kritischer Konzeptkunst. Die Avantgarde von Independent-Medien tritt in den Kontext mit dem Titelmarketing des Boulevards.

Nichts als die Wahrheit

Hinter „Freedom of Speech“, kuratiert von Marius Babias und Florian Waldvogel, steht die zentrale wie absurde Frage: „Was, wenn nur der sprechen dürfte, der die Wahrheit sagt?“ Sie setzt einen ideologischen Hebel am zitierten Verfassungsartikel an. Provokant, weil sie das Grundrecht infragestellt. Verträumt, weil sie für Aufrichtigkeit eintritt. Zensur soll also im Namen der Wahrheit stattfinden – aber welche Instanz soll eigentlich über wahr und falsch entscheiden? Und weil das eben so eine Sache mit der Wahrheit ist, zieht diese Kernfrage viele kleine und größere Fragen nach sich. Was ist Wahrheit? Gibt es ethische Grenzen der Meinungsfreiheit? Ist die Kunst ihr letzter Schutzraum?

Wahrheit ist, analog zur Freiheit in Rosa Luxemburgs Diktum, immer auch die Wahrheit der Andersdenkenden. Und schon befinden wir uns mittendrin im Mentalitätskonflikt, im Karikaturenstreit, im Kampf der Kulturen – je nach Entflammbarkeit der individuellen Wahrheit. Dan Perjovschi nimmt es mit Humor und taggt eine Litfasssäule mit konfrontativen Cartoons, Sprüchen und Symbolen voll. In einfachem Strich bringt sie auf den Punkt, wie schwer es zwei unterschiedliche Wahrheiten haben, wenn sie aufeinander treffen.

Ein Film dokumentiert Christoph Schlingensiefs Hamlet-Inszenierung in Zürich 2001. Unter dem Titel „Nazi~Line“ lud er ausstiegswillige Neonazis ein, Shakespeare aufzuführen. Damit übersprang er in gewohnter Tabuverletzung gesellschaftliche Regeln, markierte Täter für die Dauer des Stücks öffentlich als Schauspieler und sprach sich dezidiert für die Freiheit der Kunst aus. Als Resozialisierungsmaßnahme im Rahmen einer übergeordneten Wahrheit kann man das Projekt eher als gescheitert ansehen.

Die Ausstellung zeigt, wie Wahrheiten und Freiheiten instrumentalisiert werden. Sister Corita Kent brachten ihre katholisch-humanistischen Parolen im Love-Peace-and-Happiness-Design der 1960er Jahre öffentliche Aufträge des Vatikans ein, aber auch erbitterte Vorwürfe der Gotteslästerung. Hans Haacke konnte mit seiner ätzenden Kritik „Der Pralinenmeister“ von 1981 über Habitus und Geschäftsgebaren des Kölner Sammlerehepaars Peter und Irene Ludwig nur lästern, aber nichts ändern.

Klaus Staecks aus heutiger Sicht etwas altmodisch wirkender Kampf gegen die Bild-Zeitung hat dagegen mitgeholfen, die Medienwahrnehmung einer ganzen Generation zu verändern. Emory Douglas‘ immer noch frische Layouts für die Parteizeitung der Black Panther bestärkten das Selbstbewusstsein der afrikanisch-amerikanischen Gemeinschaft. Und nicht zuletzt der US-Porno-Verleger Larry Flynt hat mit den legendären Hustler-Prozessen um explizite Coverdarstellungen der Pressefreiheit einen großen Dienst erwiesen, selbst wenn es ihm am Ende wohl hauptsächlich um Auflagensteigerung ging. Ob das letzlich ein Bärendienst war, kann man sich fragen, wenn die größte deutsche Boulevardzeitung, wie am 4. September 2010 unter der Überschrift „Bild kämpft für Meinungsfreiheit“, eben dieses Grundrecht ins Feld führt, um schwelende Ausgrenzungsdiskurse weiter zu forcieren.

„Freedom of Speech“ stellt wichtige Fragen. Doch gelingt es der Ausstellung nur ansatzweise, die diversen Themen auf eine gemeinsame Ebene zu führen. Statt die vielen Fragen nur zu illustrieren und auf die „Kritische Diskursanalyse“ zu verweisen, die bildliche und sprachliche Ebenen der vorgestellten Projekte angeblich offen legen soll, fehlt der Versuch, diese Fragen auch einmal zu beantworten. Denn der Mut zur freien Meinungsäußerung sollte sich nicht hinter dem Traum von einer größeren Wahrheit verstecken müssen.

■ „Freedom of Speech“, bis 30. Januar, n.b.k.