: Revolte erreicht Tunis
TUNESIEN Ausgangssperre verhängt. Premier feuert Innenminister, Armee bezieht Stellung. Verbrüderungsszenen in einigen Städten
PAROLE AUF EINER JOURNALISTENDEMO
AUS MADRID REINER WANDLER
Überraschend hat Tunesiens Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi am Dienstag die Absetzung von Innenminister Rafek Belhaj Kacem, eines engen Vertrauten des Präsidenten, bekannt gegeben. Die inhaftierten Demonstranten sollten freigelassen werden, eine Kommission solle die Korruption im Lande untersuchen, fügte er hinzu.
Die Absetzung von Kacem erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die Revolte tunesischer Jugendlicher endgültig die Hauptstadt Tunis erreicht hat. Am Mittwoch verhängte die Regierung dort eine nächtliche Ausgangssperre. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch war es in Stadtteilen im Westen von Tunis zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten gekommen. „Wir haben keine Angst!“, schrien die meist jungen Menschen auch dann noch, als Tränengas verschossen und Warnschüsse abgegeben wurden. Sie forderten den Rücktritt des seit 23 Jahren mit eiserner Hand regierenden Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali.
Mehrere Geschäfte wurden geplündert, eine Bank ging in Flammen auf. Die Straßen um den Flughafen waren zeitweise blockiert. In mehreren Provinzstädten soll die Polizei erneut scharf geschossen haben. Wie viele Menschen ums Leben kamen, ist unklar. Laut offiziellen Angaben sind bei den Unruhen der vergangenen Tage 21 Menschen gestorben. Die Opposition redet von weit über 50 Toten.
Am Mittwoch bezog die Armee an strategisch wichtigen Punkten der Hauptstadt Stellung. Soldaten kontrollierten mit Schützenpanzern und Jeeps große Kreuzungen, Ministerien sowie das Gebäude des staatlichen Rundfunks und Fernsehens. Außerdem wurden Soldaten an den Zufahrten der Stadtteile stationiert, in denen es in der Nacht zu Unruhen gekommen war.
Trotz der Absetzung des Innenministers gingen in vielen Provinzstädten die Proteste weiter. In der Stadt Sfax formierten sich Zehntausende zu einem Demonstrationszug. Für den Abend wurden auch in Tunis neue Proteste erwartet. Für Freitag ruft die Opposition zu einem Generalstreik auf.
Die Einheit des Regimes um Ben Ali scheint zu bröckeln. Aus mehreren Städten wird von Verbrüderungsszenen zwischen Jugendlichen und der Armee berichtet. Im Internet kursieren Videos, die zeigen, wie sich bewaffnete Soldaten zwischen Demonstranten und Polizisten stellen. Am Montag versammelten sich in Tunis Dutzende namhafter Künstler und forderten ein Ende der Repression gegen die Jugendproteste. Die Polizei setzte Schlagstöcke ein.
Ebenfalls in der Hauptstadt demonstrierten über 100 Journalisten der staatlich kontrollierten Presse. Sie verlangten ein Ende der Zensur. „Wir dürfen nicht länger Lautsprecher der Regierungspropaganda sein, sondern müssen uns unsere Freiheit zurückerobern“, rief ein früherer Chef der Journalistengewerkschaft seinen Kollegen zu. Die Oppositionswebseite nawaat.org veröffentlichte einen Aufruf an Armee und Polizei: „Lasst Ben Ali nicht laufen!“ Er müsse für die Niederschlagung des Aufstands vor Gericht gestellt werden.