: „Kindeswohl geht vor Elternrecht“
Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitta Trauernicht streitet zusammen mit ihren MinisterkollegInnen für verbindliche Kinderarztuntersuchungen. Weil der Bund sich nicht bewegt, sucht die SPD-Politikerin jetzt eine landeseigene Lösung
INTERVIEW: KAIJA KUTTER
taz: Frau Trauernicht, der Bundesrat hat sich erneut mit einer Initiative für verbindliche Kinderarztuntersuchungen befasst. Sind sich die Länder einig?
Gitta Trauernicht: Die Länder sind sich einig, dass sie Früherkennungsuntersuchungen für alle Kinder wollen. Deshalb üben wir Druck auf den Bund aus, damit er den Rahmen dafür schafft. Es gibt aber zwei Anträge, einen aus Hamburg und einen aus Hessen. Der erste spricht von mehr Verbindlichkeit, der andere von Pflicht.
Welchen unterstützen Sie?
Ich unterstütze den Hamburger Antrag, sympathisiere aber auch mit dem aus Hessen. In der Praxis werden sie sich nicht unterschiedlich niederschlagen. Es muss ein Einladungswesen für die Kinderarztuntersuchungen durch die Krankenkassen geben und ein Rückmeldesystem. Dafür brauchen wir eine gesetzliche Grundlage des Bundes.
Die aber der Bund nicht schaffen will, wie er in seiner November-Stellungnahme deutlich machte.
Das erklärt sich aus einer Mischung aus Missverständnissen, Ideologie und Desinteresse. Es ist ein komplexes Vorhaben, man muss viele Gesetze ändern. Die Gesundheitsministerin hat ihren Kopf voll mit der Gesundheitsreform und die Familienministerin lehnt diesen Ansatz als Zwangsmaßnahme ab.
Manche Fachleute warnen vor der kontraproduktiven Wirkung. Pflicht und Kontrolle schreckten Familien davor ab, Hilfe anzunehmen.
Das sind berechtigte Befürchtungen. Wir brauchen Hilfe statt Kontrolle, ich lehne ein System, das mit Strafen wie Kindergeldentzug arbeitet, ab. Wir sollten dies aber mit skandinavischer Gelassenheit angehen, dort wird auch jedes Kind untersucht und Hausbesuche sind selbstverständlich. Die Menschen haben kein Problem damit, ihr Auto alle zwei Jahre zum TÜV zu bringen. Aber bei diesen kleinen Würmchen sollen wir Zurückhaltung üben?
Sie stehen hinter dem Hamburger Antrag. Warum werden dort Sozialhilfeempfänger gesondert überprüft?
Das hat mit ihrem Versichertenstatus zu tun. Diejenigen, die über die Sozialämter versichert sind, würden über die gesetzlichen Krankenkassen nicht erreicht. Aber Sie haben Recht, wir müssen sensibel mit möglichen Stigmatisierungen sein.
Wie geht es jetzt weiter?
Mit den beiden Anträgen wird der Bund aufgefordert, tätig zu werden. Es wird Gespräche geben. Ich rechne aber nicht mit einer bundeseinheitlichen Regelung. Deshalb werde ich jetzt in Schleswig-Holstein einen eigenen Weg gehen und mit den Kinderschutzorganisationen eine praktikable Lösung suchen, bei der wir das Netz der Hilfe dichter knüpfen. Wir werden dabei der Prämisse folgen: keine Stigmatisierung, keine zusätzliche Bürokratie und keine unnötigen Kosten. Das Saarland hat schon eine eigene Lösung. Eine Screeningstelle kontrolliert über Strichcodes in den Untersuchungsheften, ob die Termine eingehalten werden, und gibt dies an den Gesundheitsdienst weiter. Das wäre für Schleswig-Holstein keine gute Lösung, weil es zusätzliche Kosten schafft. Das würde ich lieber für Hilfsangebote ausgeben.
Wie soll es dann gehen?
Wir müssen anschauen, worum es geht. Im ersten Lebensjahr gehen 99 bis 97 Prozent ohnehin zur Untersuchung. Im zweiten Jahr sind es 97 bis 87 Prozent. Um die Übrigen zu erreichen, müssen wir kein bürokratisches Monster aufbauen. Der Kinderarzt könnte ein Kärtchen abschicken, ,die waren da‘. Dann könnten wir ein Netz aufbauen von Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes, Hebammen oder Ärzte, die die Familien, die nicht da waren, besuchen und fragen, warum. Bei den meisten wird sich das schnell klären: Im Wartezimmer ist es immer voll, die Mutter weiß nicht, wohin mit den anderen Kindern, sie ist allein erziehend und hat kein Auto, und so weiter. Und es wird Fälle geben, wo die Situation so desolat ist, dass es gut ist, dass nach dem Kind geschaut wurde und Hilfe auf den Weg gebracht wird.
Aber wer erfasst, wer nicht kommt?
Das hängt davon ab, was der Bund macht. Ich hoffe, dass er das Gesundheitsgesetz und das Kinder- und Jugendhilfegesetz ändert. Wenn es nämlich keine Verpflichtung für die Kassen gibt, die Einladungen abzuschicken, muss ich mit allen Kassen eine Landesrahmenvereinbarung treffen. Es bleibt das Problem der Datenweitergabe an Dritte. Das saarländische Modell ist meines Erachtens rechtlich fragwürdig, da Gesundheitsdienste ihre Informationen an Dritte, zum Beispiel das Jugendamt, nur weitergeben können, wenn die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung erreicht ist. Davon kann aber nicht automatisch ausgegangen werden, wenn Eltern nicht mit ihren Kindern zur Frühuntersuchung gehen. Zur Zeit lassen sich die Datenschutzprobleme nur lösen, wenn Eltern mit der Datenweitergabe einverstanden sind.
Welche Ideologie herrscht im Familienministerium?
Es wird gesagt, nur weil fünf Prozent nicht zum Arzt gehen, sei es unverhältnismäßig, eine Zwangsuntersuchung einführen. Ich war Jugendamtsleiterin in Hamburg. Ich kenne die Kinder, um die es hier geht. Hier von Zwang zu sprechen, ärgert mich. Diese Kinder brauchen eine Lobby. Der Anspruch auf gesunde Entwicklung ist ein Menschenrecht. Kindeswohl hat Vorrang vor Elternrecht. Dieses muss von allen Beteiligten konsequent eingelöst werden.