: Jeder gegen jeden
In Palästina herrscht die Gewalt der Milizen. Auch Präsident Abbas gerät unter Beschuss. Neuwahlen sind ungewiss
AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL
Den bewaffneten palästinensischen Banden ist nichts und niemand mehr heilig. Auf das Büro von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Gaza ist gestern ein Raketenangriff verübt worden. Mindestens zwei Menschen seien verletzt worden, hieß es aus Sicherheitskreisen. Noch in der Nacht nach der Entscheidung Abbas’ über vorgezogene Neuwahlen geriet seine Elitetruppe „Force 17“ unter den Beschuss vermummter Hamas-Aktivisten; dabei starb eine 19-jährige. Kurz darauf meldete die Hamas den versuchten Mordanschlag auf Außenminister Mahmud al-Sahar, dessen Konvoi gestern Nachmittag auf offener Straße in Gaza beschossen wurde. Die Hamas nannte die geplanten Neuwahlen einen „Versuch, die Regierung zu stürzen“. Premierminister Ismail Hanijeh kündigte an, dass seine Bewegung die Wahlen boykottieren werde.
Versuchten die Führungen der beiden zerstrittenen Bewegungen Fatah und Hamas bislang, ihre Anhänger von Eskalationen abzuhalten, so findet seit Tagen eine offene Hetze gegeneinander statt. Regierungschef Hanijeh, der erst am Freitag einem Mordanschlag entkam, drohte in seiner Wut mit einem Racheakt an den „Verrätern“ und nannte namentlich den Exsicherheitschef der Fatah im Gaza-Streifen, Mohammad Dahlan, einen engen Vertrauten des Palästinenserpräsidenten. Der erklärte Versuch von Abbas, mittels Neuwahlen die innerpalästinensische Krise beizulegen, erweist sich als kontraproduktiv.
In seiner seit Tagen erwarteten Ansprache an das Volk hielt Abbas am Samstag mit Kritik am politischen Gegner nicht zurück. Er erinnerte an den „hässlichen Mord“ an drei Kindern eines ihm eng vertrauten palästinensischen Sicherheitsoffiziers, machte die Hamas verantwortlich für die internationale „Belagerung“ und die Wirtschaftsmisere sowie für Israels Invasion. „Der Krieg gegen den Gaza-Streifen begann, und dieser Soldat (der entführte Israeli Gilad Shalit) kostete uns 500 Märtyrer und 4.000 Verwundete.“ Abbas warnte davor, „Chancen zu verpassen“, so die Initiative von Ex-US-Außenminister James Baker. Weil „das Volk die Quelle jeder Autorität ist“, habe er sich für vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen entschieden, wobei „ich immer dafür offenbleiben werde, eine Regierung der Nationalen Einheit zu bilden“.
Problematisch bei der Entscheidung des Palästinenserpräsidenten ist seine verfassungsrechtliche Befugnis. Artikel 45 der vorläufigen palästinensischen Verfassung gibt ihm die Kompetenz der Ernennung des Premiers und das Recht, ihn von seinem Amt zu entlassen. Das Parlament darf hingegen auch „während einer Ausnahmesituation“, so Artikel 113, nicht aufgelöst werden.
Ohne die Kooperation des derzeit von der Hamas besetzten Innenministeriums dürfte schon die Vorbereitung von Wahlen einige Schwierigkeiten bereiten. Zudem wäre die demokratische Volksbefragung sinnlos, sollte die Regierungspartei ihre Drohung wahrmachen und die Wahlen boykottieren. Abbas geht ein doppeltes Risiko ein. Zum einen droht ihm das komplette Chaos und die Niederlage gegenüber der Hamas, wenn sie Abbas’ Entscheidung untergräbt, zum anderen setzt er seinen eigenen Posten aufs Spiel. Niemand kann derzeit garantieren, dass das Volk nicht doch an Stelle von ihm Ismail Hanijeh zum Palästinenserpräsidenten wählt. Nach jüngsten Umfragen würde vermutlich die Fatah Neuwahlen gewinnen. Innerhalb der Bewegung bestehen indes noch große Zweifel über den Ausgang des möglichen Urnengangs. Fast ein Jahr nach der überraschenden Niederlage stehen die längst überfälligen parteiinternen Reformen weiter aus. Um den Streit zwischen den Generationen zu mildern, der vor den letzten Wahlen die Bewegung schwächte, hat Abbas laut dem Jerusalemer Fatah-Funktionär Ahmed Ghneim die kollektive Führung der Fatah-Partei neu geordnet. In die verjüngte Parteispitze aufgerückt sind u. a. Exsicherheitsberater Dschibril Radschub und Mohammad Dahlan.