: Die Schätze aus der Truhe
ALTE PLATTEN Im Museum Neukölln huldigt man dem „Mythos Vinyl“ und lädt die Bürger zum Plattenauflegen ein
■ „Mythos Vinyl – die Ära der Schallplatte“ ist im Museum Neukölln, Alt-Britz 81, dienstags bis sonntags von 10–18 Uhr bis zum 28. Dezember zu sehen. Den wie eine Musikzeitschrift aufgemachten Ausstellungskatalog mit 168 Seiten dazu gibt es für 14,80 Euro.
■ Beim „Lazy Sunday“ an diesem Sonntag (und am 29. Juni) gibt es die Gelegenheit, seine Lieblingsplatten im Museum aufzulegen. Der Eintritt ist frei.
VON JENS UTHOFF
Wow, die Small Faces! Und hey: Sinatra. Und dann die Dietrich! Auf Platte. Am besten abgespielt auf einem jener Kofferplattenspieler, die hier im Raume zu besichtigen sind. Damit zieht man dann des Sommers in den Park und macht sich einen „Lazy Sunday Afternoon“, wie die Sixties-Band Small Faces ihn herbeisehnte. Wouldn’t it be nice?
Zum Schwelgen und Sehnen, wie schön der Rock und Pop während und kurz nach seiner ersten Blütezeit war, bietet die aktuelle Ausstellung im Museum Neukölln ganz sicher genug Stoff. „Mythos Vinyl – Die Ära der Schallplatte“ heißt die Ende Mai eröffnete Schau, die sich nicht nur dem Medium, sondern auch der Entstehung von Jugendkulturen in Deutschland und der musikalischen Revolte widmet.
Im Ausstellungsraum des Museums – so groß wie ein kleiner Rockclub – sieht man viele Plattencover an den Wänden, alte Plattenspieler in Vitrinen, jede Menge 50er- und 60er-Jahre-Design. Im Eingangsbereich steht eine Musiktruhe aus den frühen 50er Jahren – eines jener typischen Möbelstücke, in das der Schallplattenspieler bereits eingebaut war.
Die Musiktruhe führt – in Kombination mit den Platten, dem Petticoat, der von der Decke hängt und den später zu sehenden Aufnahmen von rebellierenden Jugendlichen – gut in eines der zentralen Themen der Ausstellung ein: Den gesellschaftlichen Bruch, der sich in der großen Epoche des Vinyls ereignete, die Bedingungen für ’68, die in den Jahren des von den USA nach Europa rüberschwappenden Rock ’n’ Roll geschaffen wurden.
Eine Neuköllner Legende
Wie die damals neuartige Musik sich schnell auch im Stadtteil Neukölln etablierte, wird zu Beginn des Rundgangs klar. Denn da fühlt es sich direkt so an, als stünde man mitten in der Wohnung einer Stadtlegende: Eine Aufnahme aus dem Wohnzimmer des 2004 gestorbenen Rock-’n’-Roll-Gitarristen Jacky Spelter ist dort großformatig zu sehen. Sein Zimmer – gespickt mit Schallplattencovers, Kassettenboxen und Konzertpostern – gibt einen Eindruck davon, wie ein Leben aussieht, das sich ganz der Musik verschreibt. Dereinst teilte sich Spelter gar eine Bühne mit John Lennon. Als die Beatles 1965 gerade in Österreich den Film „Help“ drehten und Spelter dort mit seiner Band The Strangers tourte, jammte Lennon bei deren Auftritt kurzerhand mit. Beide kannten sich bereits aus einem Hamburger Club, in denen die Beatles und die Strangers gespielt hatten.
Apropos Beatles: Die Covers der Fab-Four-Singles hängen ein Stückchen weiter an der Wand – die Kuratorin Barbara Hoffmann und Museumsleiter Udo Gößwald haben dazu die Sammlung eines Neuköllner Musikfans entliehen. Und natürlich dürfen auch die Antipoden nicht fehlen: an die Rolling Stones wird mit deren legendärem Waldbühnen-Konzert 1965 mitsamt der heftigen Randale dort und den 87 Verletzten erinnert.
Auch anhand dieses Ereignisses lassen sich die Generationenkonflikte veranschaulichen: In einem Rias-Bericht, den man mit dem Touchpad aufrufen kann, versucht ein hörbar aufgewühlter Reporter die Randale in sein Weltbild zu integrieren. So mancher fordere „Reichsarbeitsdienst“ für die jugendlichen Rock ’n’ Roller oder das „Kasernieren“ der Halbstarken, berichtet dieser.
Der Höhepunkt der Ausstellung aber für mich sind die persönlichen Geschichten Neuköllner Bürger zu ihren Lieblingsplatten, deren Cover an der Wand hängen. Fünfzig Bewohner und Bewohnerinnen des Bezirks (zwischen 18 und 88 Jahren) erzählen da, was die Scheiben ihnen bedeuten – auf dem Touchpad kann man die entsprechende Musik hören und die Berichte dazu lesen.
Blöder Michael Jackson
Zum einen stellt sich einmal mehr heraus, wie identitätsstiftend Musik ist. Zum anderen sind die biografischen Erzählungen auch politisch aufgeladen. Eine junge Palästinenserin, die das „Thriller“-Album von Michael Jackson ausstellt, sagt im Interview über ihn: „Blöd fand ich, dass seine Hautfarbe immer heller wurde. Wenn ich schwarz bin, bin ich schwarz. Ich fand ihn hässlich, als er so weiß wurde.“
Die 18-jährige Susan K. aus Neukölln hingegen, die von ihrer Mutter einen Plattenspieler geschenkt bekommen hatte, lernt durch die Musik ihre eigene Mutter besser kennen: „Eines Tages habe ich eine ihrer Platten (Sonic Youth) sehr laut gespielt, als sie nach Hause kam. Da kam sie in mein Zimmer gestürmt, sang und tanzte sofort wild mit, was mich sehr schockierte. Das war eine völlig andere Seite, die ich da plötzlich an ihr erlebte.“
Am Sonntag kann man nun selbst derlei alte Schätze aus seinem Plattenschrank ausgraben und abspielen – dann macht das Museum Neukölln nämlich ernst mit dem Motto „Lazy Sunday“ und lädt zum Plattenauflegen in der Ausstellung ein.