Oper blieb stehen

Mozarts „Idomeneo“ in der Inszenierung von Hans Neuenfels ist an der Deutschen Oper Berlin tatsächlich wieder aufgeführt worden

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Deutsche Oper Berlin hat ihre raue Waschbetonfront zur Bismarckstraße seit längerem mit Goldlametta behängt. Das ist schade, denn nun sieht das Beispiel gelungener Nachkriegsmoderne im Gefolge des Bauhauses ein bisschen aus wie ein Billig-Kaufhaus im Weihnachtsrummel. Aber an diesem Montagabend glitzerte der Fummel prächtig im Scheinwerferlicht. Ein halbes Dutzend Fernsehteams hatte sich davor aufgebaut, und im sicheren Gefühl, der Geburt einer Weltnachricht beizuwohnen, konnte man wichtige Leute dabei beobachten, wie sie auf wichtige Leute warten.

Über die Kunst der Medien können Opernregisseure nur neidvoll staunen. Keinem ist je gelungen, die Absetzung eines Stücks wochenlang im Spielplan zu halten: „Idomeneo“ von Wolfgang Amadeus Mozart und Hans Neuenfels. Darf man das spielen? Man muss, lautet die finale Antwort, aber natürlich hatten weder Neuenfels noch die Intendantin Kirsten Harms Lust, am diesem Schlusschor persönlich mitzuwirken. So viel Frustrationstoleranz kann niemand verlangen, sie blieben unsichtbar, stattdessen kamen der deutsche Innenminister und Männer, die man als islamisch aussehend bezeichnen könnte, wenn sich der Rassismus eines solchen Urteils nicht von selbst verböte. Politisch korrekter war ihre Wichtigkeit am Rudel der Reporter zu erkennen, das sich um sie balgte, wo immer sie glücklich lächelnd auftraten. „Die Kollegen, die nicht gekommen sind, muss ich kritisieren“, sagte einer von ihnen. Er hatte Recht. So viel Scheinwerferlicht sollten sich Interessenvertreter von Minderheiten niemals entgehen lassen.

Etwas abseits hielt ein Demonstrant ein Pappschild in die Höhe. „Kunstfreiheit oder Jesus Christus?“ hatte er darauf geschrieben. Zu Recht war auch er von dankbaren Reportern umringt, denn er hatte mit schlagzeilentauglicher Zuspitzung die Frage formuliert, die uns in diesem Herbst beschäftigen musste. Offenbar war er im glücklichen Besitz einer Antwort, er blieb draußen bei Jesus, alle anderen, Bodyguards eingeschlossen, entschieden sich für die Kunstfreiheit und standen an den Sicherheitsschleusen Schlange. Einer war eigentlich nur wegen Mihoko Fujimura gekommen, der japanischen Sängerin für die Hosenrolle des kretischen Königssohns Idamante. Empört wandte er sich vor dem Tor des Metalldetektors ab und verließ schimpfend das Opernhaus. Die Frage: „Fujimura oder Personenkontrolle“ ist gewiss nicht leichter zu entscheiden als die des Demonstranten, und man kann nur hoffen, dass es den Kameraleuten gelang, den Heroismus der Mehrheit umfassend ins weltweit verbreitete Bild zu bringen. Die Mehrheit entscheid sich für Kunstfreiheit mit Polizei.

Belohnt wurde sie mit einer halben Stunde Warten im besten Theatersaal Berlins und – tatsächlich – Mozarts „Idomeneo“. Hans Neuenfels hat sehr viel Kluges dafür getan, sich spürbar persönlich identifiziert mit diesem kretischen König, der verzweifelt seine Götter beschimpft, weil sie ihn zwingen, den eigenen Sohn zu ermorden. Er zieht sie aus bis auf die Unterhosen und schlägt ihnen die Köpfe ab. Aus Aktualitätsgründen sind drei der Quälgeister als Christus, Buddha und Mohammed zu erkennen – an den hier grün angemalten Poseidon des Originals hat schon Mozart nicht mehr geglaubt. Vor diesem Schluss, der um die Welt ging, weil der Berliner Innensenator darin eine mögliche Gefahr für Oper und Besucher sah, rief ein einsamer Zuschauer „Aufhören“ in den Saal. Zwei oder drei Buhrufer schlossen sich an, danach sagte der deutsche Innenminister, es sei „schön, dass wir alle zusammen zugehört haben“.

Recht hat auch er. Es geht nicht um die unbeantwortbaren Fragen nach Religion und Freiheit und die selbstverständlich immer mögliche Verletzung religiöser Gefühle. Es geht ums Zuhören. Wahrscheinlich bringt nur eine winzige Minderheit gläubiger Muslime Begeisterung für deutsches Regietheater auf. Es wäre grausam und dumm, das zu fordern. Aber niemand, am wenigsten Neuenfels, hat von ihnen jemals eine Unterwerfung unter diese Art der Freiheit verlangt, und so konnte die Berliner Polizei denn auch niemals konkrete Hinweise auf eine Gefahr von dieser Seite vorlegen. Trotzdem blieb eine weitere Frage offen. Raúl Giménez, der leider arg näselnde Sänger der Titelrolle, greift sich im Angesicht der abgeschlagenen Skandalköpfe nach Atem ringend ans Herz. Soll diese Geste seinen Tod anzeigen? Das wäre nun der nächste Skandal, denn selbstverständlich sind sich Mozart und Neuenfels vollkommen einig darin, dass Idomeneo seine Götter glücklich überlebt. Daran zu rütteln wäre eine Verletzung ästhetischer Gefühle, die man der Deutschen Oper nicht verzeihen dürfte. Aber die Mehrheit im Saal war wohl auch hier der heroischen Meinung, dass Idomeneo lebt und nur ein unfreiwilliges Handspiel des Sängers zu sehen war. Die sind ja meistens keine guten Schauspieler.