Im Osten geht die Sonne auf

OSTROCK Mit „Go Ost!“ hat Alexander Pehlemann einen Reiseführer in die Subkulturen Osteuropas vorgelegt. Im Literarischen Colloquium Berlin verrät er, was es da so alles an musikalischen Schätzen zu entdecken gibt

Am Freitag stellt Alexander Pehlemann sein im Ventil Verlag erschienenes Buch „Go Ost!“ mit den Entdeckungsreisen durch die musikalischen Subkulturszenen in den ehemaligen Provinzen des sowjetischen Empires im Literarischen Colloquium Berlin vor. Zur späteren Stunde darf auch zur entsprechenden Musik getanzt werden. Davor aber ist in einer weiteren Ost-Erkundung der Dokumentarfilm „Die Hüter der Tundra“ von René Harder sehen, der sich dafür zur russischen Halbinsel Kola in das letzte Dorf samischer Rentierzüchter aufmachte. Durch den Abend führen der Radio-Eins-Moderator Stefan Rupp und der Arte-Programmkoordinator Thomas Martin Salb.

■ Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5. 20. Juni, 19.30 Uhr. 6/4 €

VON THOMAS MAUCH

Inzwischen sei doch, heißt es, wirklich jeder musikalische Schatz zum Nachhorchen ins Netz gestellt. Nichts mehr zum Entdecken also? Gar nicht wahr!

Wenn man sich jetzt zum Beispiel aus der großen Landkarte des Pop einfach mal Albanien herausklaubt. Weiß man nicht viel von. Wie man es dort damals, zu den Zeiten des Ostblocks, mit dem Pop und dem Rock hielt, ist nun bestimmt nicht gerade die dringlichste Gretchenfrage der allgemeinen Popgeschichte. Wissen aber möchte man es dann eigentlich doch.

Und damit ist man auf dem Feld der Popmusikforschung mit dem steten Nachschub an Erinnerungsliteratur, an theoretischen Reflexionen oder schlicht Kartografierungen von popmusikalischen Phänomenen. Neue Musiken müssen erst mal mit der entsprechenden Begleitliteratur vorgestellt werden, das Alte wird, auch im Hinblick auf die Retroschlaufen im Geschäft, neu vermessen. Bis in die Detailfragen hinein. Wahrscheinlich ist irgendwo sogar notiert, welche Socken John Lennon damals im Studio getragen hat, als er mit den Beatles „Love Me Do“ eingesungen hat. Und aus den zu den Rolling Stones erschienenen Buchtiteln könnte man sich bestimmt ein Eigenheim erbauen und nebenan ein zweites mit den Titeln zu Elvis Presley. Da fehlt es nicht an Masse. Weil sich die Popgeschichtsschreibung ganz allgemein auf den angloamerikanischen Raum konzentriert. Manchmal findet sich noch ein interessierter Blick in seine prominenteren Kolonien, nach Westdeutschland etwa mit seiner Krautrock-Sonderform. In Richtung Osten von Europa aber geht der Blick kaum einmal.

Dabei gibt es es gerade in den Subkulturen Osteuropas, in den „ehemaligen Provinzen des sowjetischen Empires“, einiges zu entdecken an musikalischen Seltsamkeiten. Als Reiseführer empfiehlt sich „Go Ost!“, das gerade im Ventil Verlag erschienene Kompendium von Alexander Pehlemann. Von den Punkszenen Osteuropas erfährt man hier, für die sich der Autor als „ehemaliger DDR-Provinz-Punk“ (Pehlemann über Pehlemann) zuerst mal besonders interessiert, und auch von den daraus entstandenen bizarren Blüten wie die düstere Veitstanz-Polka von Už Jsme Doma aus Tschechien. Der Schamanenrock-Wahnsinn von Vágtázo Holottkémek aus Ungarn ist Thema oder der Futuristenpop von Auktyon aus Russland – um mal nur ein paar der auch im Westen etwas bekannteren Bands zu namedroppen, von denen neben vielen weiteren auch was zu hören ist, mit einer dem Buch beigelegten CD. Es geht Pehlemann, Herausgeber des mit Ostperspektiven vertrauten Subkulturmagazins Zonic, in „Go Ost!“ also um „ein auf westlichen Wahrnehmungs- und Verwertungsebenen bis dato fast vollständig vernachlässigtes Kapitel“ der Popmusik.

Wobei man ruhig verallgemeinern darf: Nicht nur die Subkulturen, sondern die gesammelte Pop-Produktion Osteuropas von realsozialistischen Zeiten bis eigentlich heute ist ein „vernachlässigtes“ Thema. Bei Pop gilt die Westorientierung. Was schlicht damit zu tun hat, dass der Pop mit dem Rock ’n’ Roll eben in den USA erfunden und mit dem britischen Beat-Feedback (die Beatles, die Stones …) noch einmal bestätigt wurde. Das angloamerikanische Pop-Imperium. Letztlich war es mit seinen Vorgaben immer auch das Maß der Musik im Osten.

Repressionsgeschichte

Wobei es durchaus Versuche gegeben hat im Osten, den Rock wieder aus der sozialistischen Welt zu schaffen oder ihm mit seiner prinzipiellen Aufmüpfigkeit wenigstens gleich mal den Zahn zu ziehen. Etwa in der DDR, wo man Mitte der sechziger Jahre den Beatbands einfach mal für ein paar Jahre die rote Karte zeigte. Ganz allgemein ist die Rockgeschichte im Ostblock auch eine Repressionsgeschichte. Immer wieder ist davon in „Go Ost!“ zu lesen. Und auch davon, dass sich eben nicht alle Länder dort über den gleichen Kamm scheren lassen. Dass es durchaus unterschiedliche Sonderwege gab, wie das Role-Model der westlichen Popmusik in den jeweiligen Verhältnissen adaptiert wurde.

Alle Länder des Ostblocks einigte dann aber, mit Ausnahme von Jugoslawien vielleicht, das Grundproblem, dass das Spiel mit dem Rock, der im Wesentlichen doch ein Kind des Kapitalismus ist, nach den realsozialistischen Regeln einfach nicht richtig gespielt werden konnte. Bei so einer angefeuerten Plattenproduktion wie im Westen, wo mit den konkurrierenden Labels jede musikalische Innovation gleich auf den Markt gebracht wurde, konnte und wollte man bei den staatlichen Plattenfirmen einfach nicht mitmachen.

Und dass in einer zynischen Dialektik nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zwar gerade die aufgestaute Kreativität des Undergrounds im Osten auch auf Platten zum Durchbruch kam, die neu gegründeten Labels nach einer hyperaktiven Phase nach 1990 angesichts des nun real existierenden Kapitalismus aber schnell ermatteten (weil halt auch im Osten nicht ganz so viele so ein krudes, krachiges Zeug hören wollen), auch dazu gibt es Hinweise in „Go Ost!“.

Rock konnte nach den realsozialistischen Regeln einfach nicht richtig gespielt werden

Jede Menge Fingerzeige

Vor allem aber bietet das Buch ein Fülle an Namen. Musiker, Bands, Szenen. Verweise von hier nach dort. Weitere Anknüpfungspunkte bieten die von Gastautoren beigesteuerten Listen. Christoph Tannert vom Künstlerhaus Bethanien verrät seine „private Top 5 des Prog-Rock Ost“ (prominent angeführt von Czesław Niemen). Russendisko-Mann Yuriy Gurzhy präsentiert „Acht aus der Ukraine“. Alles Fingerzeige, sich weiter selbst auf den Weg zu machen, den popmusikalischen Osten für sich zu entdecken.

Selbst von Albanien ist was zu lesen. Stichwortweise. Bledar Sejko wird da erwähnt. Erster Rockgitarrist Albaniens soll er gewesen sein, noch zu Zeiten des Kommunismus, als der Rock im Land eigentlich verboten war. Mehr erfährt man in dem Zusammenhang nicht.

Da gibt es bestimmt noch was zu entdecken.