piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein Baum für Bremen

Seit genau 50 Jahren steht er auf dem Marktplatz, 1967 wurde er von einer linkssektiererischen Splittergruppe des gerade gegründeten USB umgesägt – die Straßenbahnrandale folgten. 1990 war der Bremer Weihnachtsbaum sogar Auslöser innerdeutscher Unruhen. Ein historisch fundierter Rück- und Ausblick von DETLEF MICHELERS

„Da gab es Ansinnen aus der deutschen Wirtschaft, das hat mich doch sehr erstaunt, mit welcher Chuzpe Manager an die Politik herantreten“

Die Nachkriegszeit war sehr deprimierend und wenig Premium. Der erste feinfruchtige Bremer Klaben wurde erst 1948 wieder exportiert und die handgeformten Kluten sogar erst 1950. Viele trieb es aus Restdeutschland als Auswanderer nach Südafrika, Australien, Kanada und in die USA. Die Brücke nach Übersee war die 1952 von Bürgermeister Wilhelm Kaisen (1887 – 1979) wieder eröffnete Columbuskaje in Bremerhaven. Bei der Feier regte Wilhelm Kaisen an, dass in Zukunft auf allen deutschen Handelsschiffen ein Weihnachtsbaum an Bord sein müsse, denn „nur so wird sich die Einsicht bei den übrigen Völkern durchsetzen, dass das deutsche Volk wieder als gleichberechtigter Partner anerkannt werden muss.“

Die schlichte, jedoch symbolträchtige Idee Kaisens wurmte die Oldenburger. 12 Jahre hatte Bremen während des „tausendjährigen Reiches“ dem Oldenburger Gauleiter unterstanden, und nun segelte die Hansestadt wieder in internationalen Gewässern, während Oldenburgs Huntehafen im Schlick erstickte. So kam es mit einiger Verzögerung zu der berühmten Tannenbaumschenkung vom Spätherbst 1956. In Anwesenheit der Bürgerschaft wurde der von einer Oldenburger Flagge ummantelte Baum auf dem Bremer Marktplatz aufgerichtet. Die Enthüllung des knapp einen Meter hohen Baums führte zu empörten Reaktionen der Anwesenden. Bei dem Gewächs handelte es sich um eine ins Kraut geschossene Oldenburger Palme, von den Bremern verächtlich Grünkohl genannt. Die Antwort der Bremer kam prompt. Der Chefkoch des Bremer Ratskellers kreierte noch in der Nacht ein neues Gericht, das die Haltung zum Geschenk der Oldenburger verdeutlichte: „Kohl und Pinkel“.

Dennoch beschloss der Bremer Senat die jährliche Aufstellung eines Christbaums auf dem Marktplatz und auch Wilhelm Kaisens Idee der Bordtanne setzte sich weltweit durch. Leider spricht man in diesem Zusammenhang nicht von der Kaisen-, sondern von der Macao-Tanne. Seit den 70er Jahren wird dieses feuerfeste und bruchsichere Plastik-Steck-System in der ehemaligen portugiesischen Kolonie produziert. Die wahlweise in tauern- oder signalgrün gehaltene Plastiktanne gehört bei Schiffsneubauten zur Standardausrüstung. Seit kurzem gibt es das Modell „Blautanne“ speziell für Reedereien aus dem islamisch geprägten Raum, da die Farbe grün dem Propheten Mohammed vorbehalten ist.

Mit wachsendem Wohlstand wuchs auch der Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz. 1961 hatte er eine Höhe von drei Meter achtundsiebzig und bereits 1963 übersprang er die fünf Meter Marke. Es sollte wenige Jahre dauern, bis der beglückende Zustand stetigen Wachstums auf brutale Weise zerstört wurde und die Fratze eines falsch verstandenen Klassenkampfes durch die zarten Nadeln der in kühler Dezemberluft sanft schwingenden Äste des Baumes lugte: Die 68er Generation probte ihren Aufstand! Unter dem Motto: „Wer einmal um die Tanne rennt, gehört schon zum Establishment!“ sägte eine linkssektiererische Splittergruppe des gerade gegründeten USB (Unabhängiger Schülerbund Bremen) in der Nacht auf den 18. Dezember 1967 den Baum an.

In den Morgenstunden kippte die sechs Meter und zwölf Zentimeter hohe Tanne langsam um, bis sie auf die Straßenbahngleise stürzte und den Innenstadtverkehr lahm legte. Die Bremer Schülerbewegung sah darin das Signal für den Angriff auf das verhasste Tannenbaumsystem. Bei einer mehrtägigen Vollversammlung debattierten die Rebellen über die Hauptkampflinie und nächsten Schritte. Am Montag, dem 15. Januar 1968, nach dem Ausschluss von 32 Links- und drei Rechtsabweichlern, beschloss das verbliebene Plenum von sieben Gymnasiasten den Kampf in die Massen zu tragen. Das werbewirksame Bild der stürzenden Tanne griffen sie als Symbol auf – und setzen sich an diesem nassen, regnerischen 15. Januar auf die Straßenbahnschienen an der Domsheide.

Der Nahverkehr brach zusammen. Was folgte, ist hinlänglich bekannt: Gegen den Polizeipräsidenten wurde ermittelt, weil die Tanne nicht bewacht worden war. Der Leiter des Gartenbauamtes, verantwortlich für die Aufstellung des Baums, wurde wegen erwiesener Nachlässigkeit zur Müllverbrennungsanlage versetzt, wo er – wie Insider berichten – bis zur Pensionierung das Verbrennen der ausgedienten Weihnachtsbäume persönlich verfolgte.

Die Auswirkungen für die Christbäume der Folgejahre waren erheblich. Sie wurden mit sechzehn Stahltrossen am Boden verankert, um jeden Versuch, den Baum noch einmal zu fällen, zu verhindern. Allerdings häuften sich nun Unfälle von Passanten, die über die Seile und Pflöcke stolperten, sich Platz- und Schürfwunden zuzogen, ihre Schuhe, Strümpfe und Hosen beschädigten. Der Unmut der Touristen steigende Regressforderungen veranlassten den Senat ein Jahr vor dem 20. Jubiläum die „Tauorgie“ (Ex- Senatsbaudirektor A. Tippel) zu beenden.

Es war das Jahr, als dem Ruf der bundesdeutschen Industrie zum ersten Mal mehr als einhunderttausend Türken folgten und die Zuzugsmöglichkeiten für Familienangehörige gelockert wurden. Der aus Anatolien stammende Marük Estrügan war der erste Bremer Neubürger, der seine Familie in der Hansestadt begrüßen durfte. Der stellvertretende Bürgermeister empfing die sechsköpfige Familie in der Oberen Rathaushalle, schenkte dem Familienoberhaupt einen Bremen-Führer, führte die Familie ans Fenster und zeigte auf die über sieben Meter hohe Nordmanntanne, die gerade bei heftigem Schneetreiben abgeladen wurde, um am folgenden Tag aufgerichtet zu werden. „Dieser Baum wärmt unsere Herzen“, erklärte der Bürgermeister, „denn Weihnachten ist nicht nur das religiöse Fest, sondern auch das Fest der Liebe, der Familie“.

Marük Estrügan, der seit zwei Jahren als Schweißer auf der Bremer Vulkan Werft arbeitete und in einer Ofen beheizten eineinhalb Zimmer-Wohnung lebte, verstand die Worte „Wärme“ und „Familie“, und dass es sich um eine besondere Geste des Bürgermeisters handeln musste – um ein Gastgeschenk, wie es in Anatolien seit Menschengedenken Brauch ist. In der Nacht kam er mit dem Clan und der Kettensäge seines Schwagers. Die bekanntermaßen geschickten türkischen Handwerker zerlegten den Weihnachtsbaum innerhalb von dreißig Minuten in Ofen kompatible Stücke und transportierten sie ab. Heute gehört der diplomierte Volkswirt Östan Estrügan, ältester Sohn von Marük Estrügan, zu den profilierten Jungunternehmern der Hansestadt. Seine Großbäckerei ist der größte Produzent und Exporteur von Bremer Klaben und Kluten.

1986, das Waldsterben nahm immer dramatischere Formen an, versuchten Mitglieder von „Robin Wood“ den Weihnachtsbaum zu entführen, um gegen das „unsinnige Schlachten lebensspendender Mitbewohner unserer Erde“ zu protestieren.

Der Abtransport gelang zunächst, aber auf der A 1 bei Oyten kam der LKW in eine Polizeikontrolle. Da die Abgasuntersuchung gemäß STVZO abgelaufen war, wurde der Lastwagen stillgelegt, die Ladung auf Grund nicht vorhandener Frachtpapiere beschlagnahmt. Die niedersächsische Polizei tippte auf eine Rauschgiftbande und vermutete, die neun Meter zweiundachtzig lange Tanne sei ausgehöhlt, um größere Mengen Kokain zu transportieren. Erst ein Funkspruch der Bremer Polizei konnte den Abtransport des Baums zum Computer-Tomographen der Universität Hannover und anschließende Überweisung in ein Sägewerk verhindern.

1990 sah sich der Bremer Senat in der Weihnachtsbaumfrage einer völlig neuen Konfliktsituation gegenüber. Das Jahr zuvor war die Mauer gefallen, das zweigeteilte Deutschland vereint, und während es früher gereicht hatte, gelegentlich ein paar Kerzen in den Baum zu hängen, um an unsere Brüder und Schwestern im Osten zu denken, die „das Schicksal unserer Trennung“ trugen, ging es jetzt um tätige Mithilfe, um den Solidarpakt mit den uns aufgedrängten Ostgebieten.

Dem Senat war klar, dass man sich „in die Auseinandersetzungen begeben muss und keine Besitzstandswahrungs-Diskussion zulassen darf“. Er kündigte den Liefervertrag mit der Baden-Württembergischen Land- und Forstverwaltung und orderte einen Baum aus Thüringen. Die Replik ließ nicht lange auf sich warten. Während des Bundesligaspiels Werder Bremen gegen den VfB Stuttgart am 14. August 1991 (1:1, Halbzeit: 0:0) stellte Vereinspräsident und Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder gegenüber dem Vereinspräsidenten und SPD-Mitglied Willy Lemke klar, dass es „nicht bloß um geschmelzte Maultaschen“ gehe und er möge seiner Partei die Konsequenzen verdeutlichen: Denn Mercedes Benz plane unter diesen Umständen, das Werk in Bremen zu schließen.

„Nur so wird sich die Einsicht bei den übrigen Völkern durchsetzen, dass das deutsche Volk wieder als gleichberechtigter Partner anerkannt werden muss“

Klaus Wedemeier, dem damaligen Oberbürgermeister, („da gab es ja Ansinnen aus der deutschen Wirtschaft, das hat mich, obwohl ich da schon lange in der Politik war, doch sehr erstaunt, mit welcher Chuzpe Manager an die Politik herantreten und glauben, sich durchsetzen zu können“) gelang es, das Dilemma abzuwenden. Der süddeutsche Christbaum wurde geordert und der Partnerstadt Rostock geschenkt, der thüringische kam auf den Marktplatz. Dass der Stadtstaat seit 2000 nur noch Ökotannen mit Nachhaltigkeits- Zertifikat aufstellen lässt, muss nicht betont werden.

Seit dem Herbst 2001 zeichnet sich jedoch eine Trendwende im Christbaumsegment ab, deren Tragweite bis heute nicht abzuschätzen ist und weit über die lokalen Grenzen hinaus an Bedeutung zunimmt. Bremen, Teil des Weihnachtsbaumnetzwerkes, kann davor nicht seine Augen verschließen. Neben der Islamisierung des Baums (soll er auf der Spitze einen Halbmond oder einen Stern tragen?) steht die Rolle des Tannenbaums in der globalen Sicherheitsarchitektur im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Der fulminante Aufstieg des Weihnachtsbaums, der sich als global player, also als überregionaler Wirtschaftsfaktor mit weltweitem Verantwortungsanspruch positioniert hat, steht zur Disposition.

Die Erhaltung stabiler internationaler Strukturen im Weihnachtsbaum-Business sind noch gewährleistet. Doch birgt die Entwicklung in der Region Fernost ein erhebliches Risikopotenzial. Deutschland und Europa muss sich zu den konkurrierenden Gesellschaftssystemen Indien und China verhalten. Europa muss strategische Positionen beziehen, um den Weihnachtsbaum noch stärker in die multilateralen Strukturen einer sich abzeichnenden multipolaren Welt einzubinden. Wenn wir im weltweiten Wettbewerb um die Marke Weihnachtsmann als Marktführer und als Rohstoff der Gefühle nicht bestehen, könnte der 50. Jahrestag der Errichtung eines Christbaums auf dem Bremer Marktplatz der letzte runde Jahrestag gewesen sein.

Bereits heute kommen 95 Prozent der Dufttannen aus Asien und bei google earth kann man mit Fichten gekreuzte Bambusstauden auf riesigen chinesischen Versuchsfeldern in der Mandschurei beobachten: Sie wachsen pro Jahr fünf Meter, während die indischen IT-Spezialisten einen virtuellen Christbaum entwickeln. Eine Software, die bald zum Standardprogramm jedes Computers gehören wird; mit der der User einen individuell zu schmückenden, dreidimensionalen Christbaum in jeder Größe und in jedem Umfeld abbilden kann.