Der Literatur-Verkäufer

Es begab sich aber zu der Weihnachtszeit, dass die Menschen sich gerne Geschichten erzählten. Die taz berlin machte sich also auf in die Stadt, suchte Geschichtenerzähler und ließ sie berichten. Von ihrem Leben, ihren Träumen und von ihrem PublikumTilo Pätzolt verkauft seine Literatur in Friedrichshainer Kneipen. Der Philosophie-Student kann davon leben und sagt: „Manch großer Dichter wäre froh, wenn er so einen direkten Kontakt zu seinen Lesern hätte“

VON RICHARD ROTHER

Von der Dichtkunst allein kann man nicht leben, man muss sie auch verkaufen. Tilo Pätzolt ist ein Profi darin – aber er verkauft seine Geschichten nicht mit gewandten Worten an Lektoren in irgendwelchen Verlagen, sondern direkt an die Leser und Leserinnen. In Kneipen, vor allem in Friedrichshain.

Und das geht so: Bevor Pätzolt an die Tische in der Kneipe tritt, bittet er höflich an der Theke um Erlaubnis. Oft kennen ihn die Kneiper schon, und eine Tresenfrau nennt ihn schon mal „Schneeflocke“ – so wie der Titel eines seiner Heftchen. Hat Pätzolt das Okay vom Tresen, zieht er lächelnd von Tisch zu Tisch, seine Geschichten preisend. Er redet mit den Gästen – so lange, dass sie ihn wahrnehmen, aber nie so lange, dass sie sich belästigt fühlen. Dann lässt er das Produkt, ein selbst kopiertes Heft mit 30 bis 40 Seiten, auf dem Tisch liegen und wirken, sagt: „Schauen Sie ruhig einmal rein“, und zieht sich diskret zurück.

„Verkaufen – das kann ich“, sagt der 27-jährige Mathematik- und Philosophiestudent nicht ohne Stolz. Das hat er bei einer Promotionfirma gelernt, für die er Jahre lang Kataloge auf der Straße verteilte oder Spenden für Wohltätigkeitsorganisationen einwarb. „Wie man auf Leute zugeht, weiß ich.“ Wichtig ist dafür auch das richtige Outfit, in der Kneipe hilft ihm sein alltägliches. Mit seinen langen Dreadlocks, einer Lederjacke und einem hellen Wollschal entspricht er dem Bild eines jungen Künstlers. „Ich muss mich nur rasieren, damit ich mich von den Motz-Verkäufern unterscheide.“ Andernfalls würden ihn seine potenziellen Käufer und Leser von vornherein abwehren.

Wenn die Kneipengäste ein paar Minuten in dem Heft, das ein spanischer Comiczeichner illustriert hat, geblättert haben, zieht Pätzolt wieder von Tisch zu Tisch und fragt, ob sie es kaufen wollen. Wer will, erkundigt sich nach dem Preis – aber der ist frei. Pätzolt nimmt so viel, wie die Gäste geben wollen. Meist sind es 2 bis 3 Euro, manchmal auch weniger oder mehr. Der höchste Betrag war bislang 20 Euro, aber auf solche Summen ist Pätzolt gar nicht scharf. „Viel geben nur Männer, die ihrer weiblichen Begleitung imponieren wollen.“ Ein Kneipenverkäufer lernt viel über seine Mitmenschen.

An diesem Nachmittag hat Pätzolt von Beginn an Erfolg. Schon im ersten Café trifft er auf ein älteres Pärchen; der Mann trinkt Bier, die Frau Tee. Sofort beginnt die Dame in dem Heftchen mit dem blauen Umschlag zu blättern, liest dem Mann auch einen Satz daraus vor. Am Ende zählt sie 2,50 Euro in Kleingeld auf den Tisch und steckt das Heft zufrieden in ihre Handtasche. „Sie wollen bestimmt einmal Schriftsteller oder Journalist werden“, sagt der ältere Herr anerkennend. „Mal sehen“, meint Pätzolt und wünscht einen guten Tag. „Wenn Ihnen das Heft gefällt, senden Sie mir eine E-Mail. Dann schicke ich Ihnen eine Bonus-Geschichte.“

Auch im nächsten Café läuft es gut. Ein Mann um die 40, der sich zunächst nicht bei seiner Zeitungslektüre stören lassen wollte, kauft ebenso wie eine junge Mutter, die mit einem Kleinkind an einem Fenstertisch sitzt. „Du kannst mein Buch auch ausmalen“, scherzt Pätzolt mit dem Kind. Und hat nach einer Viertelstunde schon 10 Euro eingenommen. Neben einem Job als Mathe-Nachhilfelehrer ist der Kneipenverkauf seine Haupteinnahmequelle. Zwei- bis dreimal pro Woche zieht er los, jeweils rund zwei Stunden. Das reicht, um ein bescheidenes Leben zu finanzieren. „Ich brauch ja auch noch Zeit zum Studieren, zum Fußballspielen – und zum Geschichten-Ausdenken.“

Zweimal im Jahr produziert Pätzolt ein neues Heft, das in der Herstellung rund 50 Cent kostet. Angefangen hat Pätzolt vor zwei Jahren, nachdem er sich eine zutiefst unternehmerische Frage gestellt hatte. Er verkaufte gerade Kastanien für 2 Euro auf einem Weihnachtsmarkt und fragte sich, einen neuen Job suchend, was er denn für 2 Euro ganzjährig verkaufen könnte. Die zündende Idee kam bei einem Silvesterausflug nach Rom. Dort sah Pätzolt, wie afrikanische Immigranten Bücher aus ihrer Heimat in Bars feilboten. Der Dichter-Promoter war geboren: Ein paar Geschichten hatte er ja schon seit seiner Schulzeit geschrieben, die nächsten würden sicher folgen.

Mittlerweile gibt es Friedrichshainer, die alle Hefte von Pätzolt gesammelt haben. Sogar einen richtigen Fan hat der Dichter, der in Marzahn aufgewachsen ist. Der Fan sitzt immer in derselben Kneipe und sagt ausführlich, was ihm an den Geschichten gefällt und was nicht. „Manch großer Dichter wäre froh, wenn er so einen direkten Kontakt zu seinen Lesern hätte“, sagt Pätzolt. Eine Mission hat Pätzolt nicht, „ich möchte die Leute intelligent unterhalten“.

Das ist ihm in seinem aktuellen Heft „Sommermärchen“, das leider nur wenig redigiert wurde, durchaus gelungen. In einer Geschichte geht es um einen Fußballstürmer einer Nationalmannschaft, für den die Mitspieler seiner Mannschaft Idioten sind – und der prompt die letzte Chance zum Sieg versemmelt. In „Wolfszahn“ wiederum verwischen sich Fiktion und Wirklichkeit, als sich ein Immobilienmakler auf die Suche nach einem Verkaufsobjekt macht. Um philosophische Fragen geht es in „Der Club der Moralverbrecher“. In einer hübschen Parabel bestätigt Pätzold die Kant’sche Theorie: Normen gelten nicht, weil sie universell sind, sondern weil es Menschen gibt, die wollen, dass bestimmte Normen gelten.

Mehrere tausend Hefte hat Pätzolt schon verkauft – ein begeisterter Lektor eines Verlages war allerdings noch nicht darunter. Zumindest hat sich noch keiner bei Pätzolt gemeldet. „Ich habe noch nie versucht, bei einem Verlag unterzukommen“, sagt der Dichter mit erhobenem Kopf, dessen Hauptjob das Verkaufen ist. Vielleicht spielt auch die Angst vor einer Ablehnung eine Rolle. „Für ein Buch würde es sicher noch nicht reichen“, meint Pätzold. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Das nächste Heft kommt jedenfalls so sicher wie ein Bier in der Kneipe.

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