: Von drauß’ von China komm ich her
Aus Seiffen THOMAS GERLACH und SVEN DÖRING (FOTOS)
Der Pfarrer, der alles weiß und seine Worte achtsam wählt, hat zu Beginn der Predigt am Dritten Advent so gefragt: Gebe es nicht gerade jetzt Verzagte? Legten sich nicht gerade jetzt dunkle Schatten auf das Morgen? Bei wem das so sei, der dürfe sich vom Predigttext besonders angesprochen fühlen. Und dann las er vom Propheten, der beinahe zärtlich das Volk Israel getröstet und wieder aufgerichtet hat. Und die Kurrendesängerin hat die dritte Kerze angezündet und so artig gesungen, dass es eine Freude war. Die Kinder sind dann in ihren Radmänteln hinausstolziert wie kleine Pastoren.
Doch als zum Schluss die Gemeinde „Es kommt ein Schiff geladen“ gesungen hat – eines der ältesten und schönsten Adventslieder –, da mag mancher wieder an Johannes Schulte gedacht haben und an die Container aus China und die Trödelware, die jetzt in Seiffen angekommen ist. Das brennt im Herzen. Da ist es Zeit, dass jetzt endlich Weihnachten kommt und Ruhe einkehrt.
Die barocke Rundkirche thront hoch über Seiffen wie ein Schmuckkästchen. Sie ist vieltausendmal als Miniatur in Pyramiden und Schwibbögen verewigt worden, elektrisch beleuchtet von innen, und die Kurrendefiguren stehen davor mit Notenbüchlein und dem Morgenstern und scheinen zu singen so wie eben beim Gottesdienst. Da wird einem warm in der Seele.
Die Seiffener Kirche kennen sie jetzt sogar in China, zumindest in Taizhou, südlich von Schanghai. Und was eine Kurrende ist, dieser fromme Kinderchor, wissen sie wohl auch. Jedenfalls wird das und noch viel mehr täuschend echt am Ostchinesischen Meer von 300 Chinesen gefertigt und von Johannes Schulte verkauft. Schwibbögen, Pyramiden, Räuchermännchen, Engel und Bergmänner – die ganze kleine erzgebirgische Welt nachgeahmt, in chinesischem Holz gefangen, von chinesischen Händen bemalt, verpackt und per Container verschickt in alle Welt – und jetzt auch nach Seiffen.
Der Pfarrer verabschiedet alle mit einem Händedruck, und draußen sind wieder über hundert Busse angekommen, und nun flanieren tausende Gäste die Hauptstraße entlang, und drücken die Nasen an die Fenster und schauen in die Läden, wie alles funkelt und sich dreht. Nur ein Laden funkelt nicht. „Christmas4you“ hat Johannes Schulte über seinem Geschäft befestigt, und an der Straße lockt der Spruch „Lagerverkauf – Kunsthandwerk aus aller Welt“ in Gelb und Rot. Der kleine Laden ist wahrlich keine Augenweide. Und als ob das nicht reichte, mischt sich Schulte auf der Straße unter die Besucher, zeigt sich wie der Leibhaftige in den Geschäften, ist schnell beim Du und lacht und raucht dabei ohne Unterlass. Die Kippen landen regelmäßig auf der Straße. So einer ist hier weiß Gott nicht willkommen.
Die Männer wenden sich ab. Wären sie katholisch, würden sie sich bekreuzigen. Die Menschen hier sind Lutheraner, fleißig und fromm, und am liebsten würden sie wohl mit dem Tintenfass nach dem Dämon werfen, wie es Luther auf der Wartburg tat. Eine Frontscheibe ist bei Schultes Transporter schon zu Bruch gegangen. Die Polizei tappt im Dunkeln.
Jetzt sitzt Johannes Schulte im „Seiffener Hof“, dem besten Hotel im Ort, trinkt Cola, bläst blaue Wölkchen in die Luft und schäkert mit einer Touristin. „Ich bin der, der in der Zeitung steht!“ – „Der Lagerverkauf?“ Schulte nickt. „Da war ich eben drin!“ Sie klappert mit den Augen und zieht ein Räuchermännchen hervor. Sie komme aus Schleswig-Holstein und sei regelmäßig in Seiffen zu Gast, erzählt die Dame. Dabei suche sie für sich gezielt echte Erzgebirgische Volkskunst aus, doch für die Enkel seien die Chinasachen völlig ausreichend.
Johannes Schulte nickt. Eben! Nicht jeder wolle und könne sich die teure Erzgebirgische Volkskunst leisten. Und überhaupt: Wer hier ein Künstler ist, der brauche sich vor ihm nicht zu fürchten. Wer aber Massenware anbiete, der müsse wissen, dass Handarbeit in China einfach billiger sei. Bei Schuhen, Textilien und Haushaltsgeräten sei das längst akzeptiert. „Da haben sie ja einen schweren Stand hier?“, fragt die Dame mitfühlend. Schulte winkt ab: „Nee, ich wohn ja nicht hier.“
So gern Johannes Schulte auch durch Seiffen spaziert, lieber steht er in seinem Laden, wo die Kasse klingelt und die Neonröhren von der Decke hängen wie in einer Großküche. Ganz besonders gern steht er davor – wenn die Leute sich drinnen drängen. Dann ruft er wie auf dem Jahrmarkt: „Kleinen Moment, bis jemand raus ist!“ Und lacht die Leute an: „Ihr seid das ja gewöhnt! Vor zwanzig Jahren habt ihr das auch so gemacht!“ Und die Leute lachen zurück.
So handfest muss man schmusen, und der Johannes Schulte kann das, schließlich zog er als Marktschreier von Stadt zu Stadt. Doch ganz am Anfang wollte der 52-Jährige selbst mal ein Handwerker werden. Schmied hat er gelernt im Emsland, wo er heute noch wohnt, hat sich als Kind schon an der Esse seines Großvaters herumgedrückt. Aber wer braucht noch Schmiede? So wurde er ein Kleingewerbetreibender. Dann wurde er Kaufmann. Jetzt ist er Unternehmer.
Die Seiffener blieben in all den Jahren Handwerker. Nach der Wende und dem Ende des VEB „Erzgebirgische Volkskunst“ haben sie sich wieder aufgerappelt, ihre Betriebe reprivatisiert, neue Kollektionen entworfen, Altes wieder ins Sortiment genommen. „Das Geheimnis des Aufschwungs beruht vor allem darin, dass hier ein durch den Bergbau seit Jahrhunderten geprägter Menschenschlag am Werke war; geistig rührig, werklich geschickt, entschlusskräftig, anpassungsfähig, aber auch opferbereit und zäh.“ – Mit schönen Sätzen würdigen sie im Spielzeugmuseum die Arbeit der Vorfahren. Doch es scheint, dass die Seiffener Handwerker keine Zeit mehr haben, ins Museum zu gehen. Täten sie es, würden sie sehen, was ihnen nun blüht: Konkurrenzkampf, Verdrängung, neue und vor allem billigere Produktionsweisen, kurzum: „Globalisierung“ seit 400 Jahren. Die hiesigen Drechsler waren vorher Bergleute, bis die Flöze ausgebeutet waren. Dann machten sie Schüsseln und Teller bis das Blech kam und sie in die Nische für Spielzeug verdrängte, später für Weihnachtliches: Pyramiden, Nussknacker und Engel sind rund 150 Jahre alt. Und immer waren die Erzgebirgler billiger als die anderen. Und jetzt ist es Johannes Schulte mit seinen Chinesen.
Als im September herauskam, dass Schulte in Seiffen einen Laden eröffnet, trafen sich die Handwerker zur Krisensitzung. Und sie saßen da wie ihre Räuchermännchen – mit offenem Mund. Als ob ein Hexenmeister in die Dresdner Alten Meister gegangen wäre, die Sixtinische Madonna gegen einen Druck ausgetauscht und gesagt hätte: Sieht doch genauso aus, oder? Die Engel aus China und die aus Seiffen blicken gleichermaßen gütig. Schultes Engel haben keine Seele, sagen viele. Die Seiffener Seele hat aber ihren Preis: Um gut zwanzig Euro sind die echten Engel teurer. Bei so viel Metaphysik und so wenig Geld im Portemonnaie greift mancher wie von selbst zu Schultes Ware.
„Im Prinzip ist das aus China bloß bemaltes Holz“, beruhigt sich Dieter Uhlmann. Uhlmann ist der Hohepriester der echten Erzgebirgischen Volkskunst. Der 53-Jährige ist von Hause aus Mathematiker, doch nach der Wende hat er den Familienbetrieb im benachbarten Olbernhau reprivatisiert. Er ist seit zwölf Jahren auch Geschäftsführer des Verbands Erzgebirgischer Kunsthandwerker. „Es geht aber darum, dass unsere Figuren, unser Kulturgut nachgemacht wird.“ Verbandmitglieder haben Schulte schon mit Klagen überzogen und auch oft gewonnen. Doch gegen den Laden helfen keine Paragrafen.
„Normalerweise könnte man darüber lächeln, der Laden hat kein Niveau!“ Doch dann skizziert eine Horrorvision von Seiffen, wo es nur noch Ramschläden und Discounter gibt und dutzende Johannes Schultes rauchend und rufend an den Eingängen stehen. Auf Uhlmanns Schreibtisch rollt sich ein grün- weißes Aufkleberband mit der Aufschrift „Original statt Plagiat – Deutsche Handwerkskunst“. Der Ruf hängt schon in vielen Fenstern. Die Handwerker haben sich auf die Kampagne verständigt und seit Ende November über 7.000 Unterschriften gesammelt.
Man müsse den Leuten klarmachen, worin der eigentliche Wert liegt. „Es ist die einmalige Geschichte, die Tradition.“ Dieter Uhlmann versucht, das Immaterielle zu beschreiben. Es ist die schwierige Formulierung eines Reinheitsgebots. Allerdings haben bereits die eigenen Leute dagegen verstoßen. Ja, mancher habe aus Tschechien zuliefern lassen, räumt Uhlmann ein. Das sei im neuen Jahr aber vorbei. Der Imageschaden war zu groß, der Nutzen klein. Zumal die Tschechen bei den Löhnen aufgeholt haben. Die Durchschnittslöhne für Facharbeiter liegen bei fünf bis sechs Euro – in Seiffen. Mancher Betrieb zahle noch deutlich weniger, bedauert Uhlmann. Die Konkurrenz ist bei 120 Betrieben groß, die Umsätze stagnieren, und die Jungen ziehen fort. Und jetzt noch Schulte.
Am Ersten Advent hat die kleine Bergparade den Eindringling bestraft und demonstrativ vor seinem Laden kehrtgemacht. Am Dritten Advent, bei der großen Parade, sind die Knappschaften an der umgebauten Garage vorbeimarschiert. Als ob die Handwerker ahnten, dass Schulte gar nicht das größte Problem ist. „Sollte Franz Müntefering mit seinem Mindestlohn von 7,50 Euro durchkommen, machen hier 90 Prozent der Betriebe dicht“, unkt Dieter Uhlmann zum Abschied.
Als wollte er die Gemüter kühlen, hat der Winter Seiffen über Nacht mit Schnee bestäubt. Ob mit oder ohne Schulte – das Weihnachtsgeschäft ist gelaufen. Bald müssen sich die Handwerker Neues ausdenken, damit die Gäste wieder kaufen – im nächsten, hoffentlich friedlicheren Advent. Vielleicht fällt ihnen dann ein Räuchermännchen auf, ein qualmender Rüpel mit Colaglas, Zigarette, Bauch und Glatze. Und aus seinen Taschen lugt chinesischer Ramsch. Das könnte ein Bestseller werden – natürlich echt erzgebirgisch.