Ein wuchtiger Aufruhr

QUEERE KUNST Die Ausstellung „What is queer today is not queer tomorrow“ in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Kreuzberg kreist um Identitätskonflikte

Wenn queer die sexuelle Identität kritisiert, kann queer auch keine sexuelle Identitätskategorie sein

VON ENRICO IPPOLITO

Leere Bierflaschen stehen in der Ecke hinten rechts. Musik dröhnt aus Lautsprechern. Flyer liegen auf dem Boden. In Pink ein Penis mit rasiertem Schamhaar und einem Cockring. In großen weißen Lettern steht: „zwei Filme, die sich niemand traut anzufassen, aber jeder sehen will“. So sieht die Ausstellung „What is queer today is not queer tomorrow“ in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Kreuzberg nach der Eröffnung aus. Wie ist der Titel zu verstehen? Affirmativ? Fragend? Bedeutet queer automatisch Party? Oder sind die Bierflaschen die Überreste der Eröffnungsfeier?

Das Konzept des Queeren stellt alles in Frage – Heteronormativität, Geschlechterbilder, Gesellschaftsstrukturen und eben auch Machtverhältnisse. In diesem Sinn stellen auch die Künstler_innen in der nGbK Fragen. Auch um „queere Zeitlichkeit“ soll es gehen: Was war vielleicht mal queer? Was könnte queer sein? Die Antwort der Ausstellung scheint zu sein: Queer kreist immer um Konflikte um Identitäten. So stellt der Rapper Black Cracker eins seiner Musikvideos auf. Neben dem Flachbildschirm hängt der mehrseitige Ausdruck einer Email-Konversation mit einer Journalistenperson, der Name ist geschwärzt. Diese hatte in einem Artikel den Rapper wie folgt beschrieben: „… geboren als Frau“. Ein Etikett, das Journalist_innen als Legitimation für ihre Geschichten dient. Dabei kommen wir erst mal alle als Babys auf die Welt und bekommen dann ein Geschlecht zugewiesen. Die vermeintliche Dichotomie zwischen Mann/Frau ist nicht nur ein soziales, sondern auch biologisches Konstrukt. Mit dem Problem, das die Medien mit Geschichten über Trans*Menschen haben, setzt sich auch FranzKa Schusters und Jannik Franzens Arbeit „Dolphin Dysphoria“ auseinander. Die Delphin-Stuhl-Installation, die sich ironisch mit einem Artikel in der taz beschäftigt. Die These des Artikels: Der schwangere Trans*Mann Thomas Beatie hätte sich genauso gut die Beine amputieren, Flossen annähen und ein Atemloch in den Rücken stanzen lassen können – um zu behaupten, er wäre ein Delfin. Genauso wenig sei Thomas Beatie ein Mann, sondern lediglich eine schrecklich verstümmelte Frau. Die Arbeit greift diese Zitate ironisch auf und bittet die Betrachter in einem Delfin-geformten-Sessel Platz zu nehmen.

Dass neben dem biologischen Frau- und Mannsein auch Überlappungen, Schattierungen stattfinden, liegt für viele noch im Unvorstellbaren. So könnte Cláudio Manoels Videoarbeit „Cuceta The Queer Culture of Solange, tô aberta!“ als Einführung dienen. Manoel begleitet das brasilianische Perfomanceprojekt „Solange, tô aberta!“ bei ihren Konzerten. Auf der Bühne vermengen sie Queerness, Punk und Drag miteinander. Sie tragen Lidschatten, Stringtangas, hohe Schuhe. Sie singen, tanzen, lassen sich vom Publikum den Hintern lecken. Im Interview erklären „Solange, tô aberta“ ihr Projekt, ihren Kampf gegen Labels, warum sie politisch sind, ohne politisch zu sein. Wenn queer aber heute immer um das eine Thema des Kampfs um, gegen und in Identitäten kreist, was war dann früher queer? Was ist es morgen? Und gibt es einen terminologischen Unterscheid zwischen dem damaligen gay und dem heutigen queer?

Mit Terminologie und Historie wollen sich die Künstler_innen in der nGbK nicht aufhalten. Stattdessen aber mit Sexualität und Pornografie, wo sich der historische Kreis dann aber doch zu schließen scheint. Schließlich kreuzten sich schon in den 30er Jahren pornographische Elemente mit Kunst, zu sehen beim Modefotografen George Platt Lynes. Natürlich fand damals noch im Verborgenen statt. Oder in den 50ern beim Maler David Hockney, der das Erotik-Männermagazin Physique Pictorial als Inspirationsquelle verwendete. Fast zwanzig Jahre später kam es in der Stonewall Bar zu dem wuchtigen Aufruhr in New York, der alles für die Queers veränderte. Die 80er standen komplett im Zeichen von Aids, der Zurschaustellung von kranken Menschen in den Medien. Das in der Aids-Krise entstandene politische Kollektiv „Act-Up“ vereinte Ende der Achtziger Kunst, Theorie, Aktivismus. Ihr Poster mit dem pinken Dreieck und unten drunter der Aufschrift „Silence = Death“ in gefetteten weißen Großbuchstaben, ist mittlerweile legendär. Queer Artists waren gezwungen, ein anderes Narrativ fern vom Krankheitsbild zu bestimmen, sich eine andere, eigene Visibilität zu geben. Dies war auch die Zeit der Zensur und der Proteste gegen sie. Eine Zeit, in der es zur Kontroverse um die Fetisch-Fotografien von Robert Mapplethorpe kam. Und eine Zeit, in der ein US-Senator einen Ausstellungskatalog, der auch Andres Serranos Foto „Piss Christ“ enthielt, zeriss. Einige queere Künstler_innen entschieden sich daher gegen sexuell-explizite Inhalte und gegen ein sichtbares Subjekt. Sie verwendeten die Taktik der Codes, wie zum Beispiel Félix González-Torres in „‚Untitled’ The Portrait of Ross in LA“. Er installierte 175 Pfund in Zellophan verpackte Bonbons in die Ecke einer Galerie und forderte die Betrachtenden auf, sich Bonbons zu nehmen, zu essen, wegzutragen. Die vom Künstler immer wieder nachgeschüttete Bonbon-Menge entsprach dem Gewicht seines Partners Ross, der durch die Folgen seiner HIV-Infektion kontinuierlich abnahm.

Queerness ohne Historie – unvorstellbar. Und gesellschaftlich scheinen wir uns in der Wiederholungsschleife zu befinden, wieder in einer Zeit der Zensur. Von daher nimmt das Ausloten zwischen subtilen Codes und expliziter Pornographie auch in der Ausstellung großen Raum ein. Es ist der Moment der Selbstermächtigung, die eigene Sexualität aus der Pathologisierung zu befreien. Der Dokuporno „Trans Entities“ von Morty Diamond etwa zeigt die Beziehung zwischen Papi und Will. Die Beiden werden während des sexuellen Aktes eins, sind unteilbar, verschmelzen. Sie sprechen, während sie Sex haben, haben Umschnalldildos um, stöhnen, geben sich Ohrfeigen, küssen sich dann leidenschaftlich.

Die Frage ob nun Pornografie Kunst ist oder eben nicht, bleibt müßig. Denn wenn die Geschichte der Queerness immer auch mit Sexualität und Pornographie einhergeht, ist dies natürlich der Moment des Expliziten, des Überdeutlichmachens ein Instrument, um selbst und eigenmächtig die Grenzen der Norm zu sprengen. Und wenn etwas queer ist, dann das. Der Moment des Sprengens, des Hinterfragens, des Dinge anders sehen. Etwas, das ebenfalls in der Ausstellung integriert wurde, wenn die Betrachter sich hinlegen, setzen oder stehen müssen, um sich die Kunst zu erschließen.

Queer, dieser unfassbare Begriff, der von der Politik vereinnahmt wurde, um darunter alles Nichtheterosexuelle zu packen, ist mehr als das. Aber auch mehr als nur das Hinterfragen von Identitäten. Wenn queer die sexuelle Identität kritisieren soll, wie die Theoretikerinnen Eve Sedgwick, Teresa De Lauretis und Judith Butler proklamieren, kann queer auch keine sexuelle Identitätskategorie sein. Queerness kann und soll auch jenseits dieser bemühten und aufgesetzten Kategorien der Identitäten funktionieren und sie durchqueren. Und trotzdem arbeiten sich queere Künstler seit Jahrzehnten am Thema Identität ab, auch in der nGbK.

Damit ist der Titel der Ausstellung vielleicht doch affirmativ zu verstehen. Oder als Möglichkeit, die Identitäten zu überwinden und sich zukünftig fern ihrer Kategorien zu bewegen. Antworten, was queer nun programmatisch sein soll, liefert die Ausstellung nicht. Wer das verlangt, hat nichts verstanden. Queer ist Politik. Queer ist Utopie. Und ja, queer ist auch Party.

■ Bis 10. August. Täglich 12–19 Uhr, Do.–Sa. bis 20 Uhr