: berliner szenen Drei Flaschen zu viel
Bahngesellschaft
Beide tragen Strohhüte, einer hat ein Sixpack in der Hand. Eigentlich brauchen sie nichts mehr, der Rausch hat sie bereits im Zangengriff. Doch der Weg nach Spandau ist lang. Daher stehen sie gut ausgerüstet auf dem Bahnsteig Karl-Marx-Straße und warten, die Strohhütte auf dem Kopf, leicht schwankend. Die Bahn kommt, die beiden setzen sich hin, und mehr automatisch als einer Absicht folgend ziehen sie je eine Flasche aus der Pappe, kramen nach Feuerzeugen, finden sie, öffnen umständlich die Flasche. Dann sitzen sie da. Keiner von beiden trinkt. Alle anderen im Waggon müssen nach einer Weile lächeln. Das sind keine nervigen Betrunkenen, diese beiden jungen Strohhutträger wirken unschuldig, fast süß.
Plötzlich klirrt es, einem der beiden ist die Flasche aus der Hand gefallen. Wir lächeln freundlich, denn er macht ungelenke Bewegungen, scharrt sogar mit den Füßen die Scherben beiseite und schämt sich offensichtlich. Sein Gegenüber hilft ihm, so gut er kann. Der Erste zieht nun eine neue Flasche aus dem Sixpack, öffnet sie umständlich und verfällt wieder in Stumpfheit, so wie sein Begleiter. So sitzen sie drei Stationen lang, ermattet, doch nicht schläfrig, schweigend, die Biere in der Hand.
Dann klirrt es wieder. „Scheiße“, sagt jetzt der andere, während der Erste die Scherben seiner zweiten Flasche wegschiebt. Wir lächeln noch, denn weiterhin sind sie, wie gesagt, irgendwie süß. Wir fahren weiter, es dauert ein paar Stationen, bis der Erste es wagt, erneut eine Flasche hervorzuziehen. Als sie schließlich fällt, nicht zerspringt, aber sich entleerend durch den Waggon poltert, lächeln wir nicht mehr. „Ich kann nicht mehr“, sagt der erste Trinker zum zweiten. Der sagt nichts, sondern trinkt nun, hektisch. JÖRG SUNDERMEIER