Bewusst scheitern als einzige Chance

GRÄUEL Wie erzählen vom tiefsten Punkt des Abgrunds? Yann Martel schreibt einen selbstreflexiven Roman über den Holocaust: „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“

Ein Erfolgsautor sitzt im Restaurant. Seine Verleger haben ihn bestellt, um sein jüngstes Manuskript zu besprechen. Jahre harter Arbeit liegen hinter ihm; er hat Grossmanns „Stichwort: Liebe“ und Spiegelmans „Maus“-Comic gelesen; er hat sich mit Orwells „Animal Farm“ befasst. Der junge Mann ist stolz auf sein Buch über den Holocaust, das experimentell Essay und Roman verbindet. Er freut sich auf das Gespräch. Es wird ein Desaster: Die Kritik, das Buch sei unlesbar und langweilig, trifft ihn so hart, dass er das Schreiben aufgibt.

Glücklicherweise handelt es sich hier nicht um Yann Martel, sondern nur um die Hauptfigur in dessen neuem Roman „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“. Parallelen lassen sich aber nicht leugnen: Martel lebt wie seine Figur Henry T. in Kanada und schrieb seinen Erfolgsroman über Tiere. Für „Schiffbruch mit Tiger“ erhielt er 2002 den Booker Prize. Beide haben ein Buch über den Holocaust verfasst, das die Schwierigkeiten des Unterfangens formal spiegelt, weil sie finden, dass historische Fakten nicht reichen, um die aberwitzige Dimension des Terrors zu fassen, sondern dass es eines spezifisch ästhetischen Ansatzes bedarf. Der Unterschied: Martel ist ein intelligentes und gut lesbares Buch gelungen.

Politik, Ethik und Ästhetik sind bei der Frage, wie wir vom Holocaust erzählen sollen, kompliziert verquickt. Wie kann dem singulären Opfer Respekt gezollt und zugleich dem Unterhaltungsanspruch der Leser begegnet werden? Angesichts der Notwendigkeit, jeder Generation aufs Neue vom größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu berichten, liegt der Knackpunkt in der Frage, was für Konsequenzen aus der Beschränktheit jeglicher sprachlichen Repräsentation zu ziehen sind.

Der Judaist James E. Young meint, der Holocaust stelle eine so traumatische Erfahrung dar, dass er sprachlich nicht zu fassen ist. Daher stecke in jedem Bericht von Auschwitz-Überlebenden die Verzweiflung darüber, Zeugnis ablegen zu müssen und zugleich zu wissen, dass ebendieses Zeugnis die Erfahrungen verändert und verdrängt. Oder wie Primo Levi es formulierte: „Wir Überlebenden … sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.“

Dass zahllose geglückte wie misslungene Holocaustbücher dieses Problem reflektieren, macht die Sache für einen heutigen Schriftsteller nicht eben einfacher. Und wir können annehmen, dass die Leidensgeschichte des Henry T. nicht ganz frei erfunden ist. Die Mühen sind dem Roman „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ anzumerken: Martel hat sich für konsequente Selbstreflexion entschieden und eine flott erzählte Episode aus dem Leben eines Jungschriftstellers mit stark stilisierten Passagen über das unbeschreibliche Grauen verbunden. Das wirkt mitunter konstruiert, funktioniert aber insgesamt gut.

Henry T. hat sich in seinem neuen Leben fern des Literaturbetriebs eingerichtet. Eines Tages begegnet er einem misanthropischen Tierpräparator und beginnt, sich regelmäßig mit ihm zu treffen. Er glaubt, einen Verbündeten gefunden zu haben, schließlich schreibt der Alte an einem Theaterstück, in dem Henry Verweise auf sein eigenes Thema findet: Die Protagonisten sind ein Esel und ein Brüllaffe und gehören so Tiergattungen an, die in dem Stück offenbar ausgerottet werden sollen. Vogelfrei, gezeichnet von Gewalt und Heimatlosigkeit, kreisen ihre Dialoge um die Frage, wie sie von dem, was sie „die Gräuel“ nennen, sprechen können. Sie versuchen, Folter zu beschreiben, sammeln Geschichten, Begriffe, Wortreihen, etwa „Tätowierung, Schrei, Aukitz“. Als Leser denkt man wie Henry: Als Theaterstück funktioniert das wohl nicht, aber hier scheinen Worte gefunden, mit denen sich die Hölle darstellen lässt.

Dass jedoch der Abstraktion stets die Gefahr der Relativierung innewohnt und der Ästhetisierung die der moralischen Gleichgültigkeit, wird Henry T. am dramatischen Ende schmerzlich bewusst. Und so erzählt Martel vom Holocaust, indem er erzählt, dass man nicht von ihm erzählen kann. Wir müssen wohl mit dieser Ambivalenz leben. Aber das ist nicht so schlimm, solange es so kluge Schriftsteller wie Martel gibt. Auf ermutigende Weise zeigt er, dass Selbstreflexion nicht Selbstreferentialität heißen muss, dass im bewussten Scheitern eine Chance liegt und dass es das eben doch geben kann: ein zeitgemäßes Erzählen vom Holocaust. CHRISTINE REGUS

Yann Martel: „Ein Hemd des 20. Jahrhun- derts“. Aus dem Englischen von Manfred Allie und Gabriele Kempf-Allie. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 206 Seiten, 18,95 Euro