: Hier wächst nichts zusammen
Der Ost-West-Dialog fällt aus: Rashid al-Daif und Joachim Helfers Dialogroman „Die Verschwulung der Welt“ ist vor allem Protokoll eines Missverständnisses. Keines kulturellen, wohlgemerkt. Denn Moraltrompeter und Ironiesänger hatten sich noch nie allzu viel mitzuteilen
VON MICHAEL KLEEBERG
Dieses Buch, dessen Titel berechtigten Anspruch auf den grässlichsten des Jahres erheben darf und dessen Untertitel „Rede gegen Rede“ der pure Etikettenschwindel ist, hätte ein kleines Meisterwerk werden können. Warum es das nicht geworden ist, warum es aber dennoch lehrreich ist und wie man es lesen sollte, um es besser verstehen zu können, davon soll im Folgenden die Rede sein.
Das Schriftstelleraustauschprogramm „Westöstlicher Diwan“ hat sich zum Ziel gesetzt, deutsche und arabische Autoren in den jeweiligen Heimatländern mehr über Lebensumstände und Kultur des Anderen lernen zu lassen, als sie gemeinhin davon wissen. Von zweien der Teilnehmer stammt jetzt dieses Buch: Rashid al-Daif ist ein heterosexueller libanesischer Autor vom Jahrgang 1945, Joachim Helfer ein homosexueller deutscher vom Jahrgang 1964. Dass ich die beiden anhand ihrer sexuellen Ausrichtung unterscheide, liegt daran, dass diese ihr jeweiliges Werk charakterisiert und das Thema dieses Buches ist.
Während seines Aufenthalts im Libanon lernte Joachim Helfer eine dort lebende Deutsche kennen und zeugte ein Kind mit ihr. Diese Begebenheit hat offenbar Daifs Kreativität entzündet. Man kann sich vorstellen, wie: Der in einer festen Beziehung zu einem sehr viel älteren Mann lebende deutsche Autor, der seit Jahrzehnten keine Frau mehr angesehen hat, kommt ausgerechnet im Libanon, dem nahöstlichen Dorado für Homosexuelle, unter der Patronage seines um die Kinderlosigkeit Europas besorgten Freundes Daif wieder „zur Vernunft“. Das ist einfach eine Story.
Daif macht daraus ein kleines Kabinettstück von Erzählung, das sich dramaturgisch bis zum komisch übertriebenen Höhepunkt steigert: der von Rashid zu Joachims heterosexueller Rettung organisierten „Hochzeitsfeier“ mit allen nur erdenklichen Kitschbeigaben. Ironisch und pseudonaiv gibt Daif hier anhand des „Falls“ Helfer vor allem viel Interessantes über die Männer- und Geschlechterrollen in arabischen Gesellschaften preis.
Offenbar lag dem jetzigen Buch, auch wenn beide Protagonisten das heute etwas unterschiedlich interpretieren, eine Abmachung zugrunde: Daif darf über Helfer schreiben und ihn beim Namen nennen, und Helfer revanchiert sich mit einem ähnlichen Text über Daif. Dann werden, für die deutsche Buchausgabe, beide hintereinandergestellt.
Dazu ist es nicht gekommen. Sei es, dass Helfer, der, wie er sagt, nicht auf Befehl Prosa schreiben kann, keinen Ansatz fand, um über seinen Partner zu berichten, sei es, dass er seine Toleranz gegenüber dem zugegeben bedenklichen Entblößungsverfahren Daifs überschätzt hatte und nun lieber das, wie er fand, schiefe Bild, das Daif von ihm zeichnete, korrigieren und ins rechte Licht rücken wollte.
Statt wie geplant darauf zu reagieren, hat Helfer Daifs Erzählung willkürlich unterbrochen, um seine Kommentare, Exkurse und Gegenbilder zu platzieren. Und sein Verlag, Suhrkamp, verkauft diese schiefe Konstruktion unter dem Untertitel „Rede gegen Rede“ als Dialog. Ein Unding. Wer sich davon nicht blenden lassen will, muss das Buch so lesen, wie Daif es wünscht: zunächst seinen Text, die Kommentare Helfers überspringend, und diese dann hinterher.
Dabei musste Helfer wissen, dass dieses pseudobiografische Spiel mit realen Namen und Personen auch alle Romane Daifs prägt. Ein Verfahren, dessen Prinzip es ist, dass nichts die Wahrheit besser verbirgt als die Realität. Daif schreibt in Ichform, seine Protagonisten heißen stets Rashid und gleichen ihm wie ein Ei dem andern. Dennoch handelt es sich nie um Autobiografie, sondern um ein Vexierspiel mit einem Ich, das viel mehr kollektive als individuelle Züge hat und das in seiner gespielten Durchschnittlichkeit den Menschen als solchen offenbaren soll.
Genauso ist Daif auch mit Helfer vorgegangen. Sie sind Rashid und Joachim seiner Erzählung und zugleich auch nicht, beide sind verfremdet und beide Synthesen typischer Verhaltensmuster. Und wenn Daif den homosexuellen Libertin mit all dem (gespielten) Befremden eines europäischen Naturforschers des 19. Jahrhunderts angesichts absonderlicher Beduinenriten beschreibt, dann ist das eine herrlich ironische Umkehr der real existierenden westlichen Definitionshoheit über die arabische Kultur.
Was hätte Helfer aus dieser Vorlage in seinem Gegentext nun nicht alles machen können! Seinerseits ein ironisches Porträt Daifs, der weiß Gott genügend Macken hat, die man hätte aufspießen können. Der Brillenträger mit dem schütteren Haar und dem Thermoanorak, der in einem schicken Berliner Salon dekolletierte Damen anbaggert, ein Don Quichotte, der George Clooney spielt. Der Fetischist modernster Elektronik und Technik, der in virtuellen Welten den alten arabischen Adam hinter sich lassen will. Der bindungsscheue Familienapostel. Der verschmitzt-wahnsinnige Provokateur, der erschrockenen Gesprächspartnern intimste Fragen an den Kopf wirft. Der Schweyk’sche Feigling, der irgendwie lebendig durch die Kriegswirren zu kommen trachtet. Der vom Landleben träumende Kaffeehausstammgast.
Er hätte auch ein tiefer gehendes Charakterbild Daifs erstellen, von dem Jungen aus der zehnköpfigen, bettelarmen Familie aus einem Kaff im Norden des Libanon erzählen können, der seine Mutter abgöttisch liebt, die ihm als fast einzigem ihrer Kinder ein Studium ermöglicht, während die Geschwister als Mechaniker, Maurer, Arbeiter am Ort blieben. Er hätte erzählen können von dem überzeugten Kommunisten, dem dreißig Jahre später, zum ersten Mal selbst in der wiedervereinigten Stadt, die Tränen kamen angesichts all der alles umstürzenden Weltveränderungen und Zusammenbrüche seither. Von dem zutiefst traumatisierten Attentatsopfer des Bürgerkriegs, das, von Bombensplittern getroffen, stundenlang zwischen Leben und Tod auf der Straße lag und mit dem Glauben ans eigene ewige Leben auch alle politische Überzeugung verlor. Von dem Autor absurder, tiefschwarzer, melancholischer, komischer Romane oder von der Gestalt, die am ersten Tag des wiedergefundenen Friedens mit ihrem Frühstücksbrot auf ein Baugerüst kletterte und mit den Beinen baumelnd sich an den Bohr- und Hammergeräuschen um sich herum ergötzte, der Musik des Wiederaufbaus nach so viel sinnloser Zerstörung.
All das tut Helfer aber leider nicht. Die Alternative, die er wählt, ist es, Daifs Text zu kommentieren, zu dekonstruieren, mutwillig ein- und auszuschalten, und zwar auf eine Weise, die man sich so vorstellen muss, als sei das Drehbuch zu Ernst Lubitschs legendär-skandalöser Komödie „Sein oder Nichtsein“ („So they call me concentration camp-Ehrhardt! We are doing the concentrating, and the Poles are doing the camping“), einem Zwitter aus Franz Alt und Claudia Roth, anvertraut worden mit der Bitte, es an jeder politisch unkorrekten Stelle zu unterbrechen.
Mir wird aus Helfers Einwürfen nicht klar, ob er Daif nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte, ob er wirklich so gar keinen Humor besitzt, so gar kein Gespür für Daifs Ton, oder ob er ihn bewusst missversteht, um ihn umso besser richten zu können. Hätte Helfer sich doch nur eine Sekunde lang auf Daif eingelassen, hätte er ihn doch nur wirklich gesehen!
Stattdessen lobt und tadelt er ihn vom hohen Ross westdeutsch linken, toleranten, multikulturellen Gutmenschentums herab, antifaschistisch und pazifistisch, freiheitsliebend aber alles verstehend, in einer – er möge mir verzeihen – kolonialistisch begütigenden Herablassung, was letztlich ein bezeichnenderes Licht auf deutsche Intellektuelle wirft als auf libanesische Romanciers. Und auch wenn jeder vernünftige Mensch die einzelnen Punkte dieses Tugendkatalogs unterschreiben müsste, empfindet der Leser ihre selbstgerechte Ballung hier als Zumutung und Erpressung. Aber Helfer, der in diesem Text ja zwangsweise immer das letzte Wort hat, redet nicht nur an Daif vorbei, er versucht ihn auch vorzuführen. Die Ironie in Daifs Text, bewusst oder unbewusst ignorierend, lässt Helfer ihn als archaischen arabischen Popanz dastehen. Ist er tatsächlich taub für Daifs Spiel, dann ist das Ganze ein tragisches Missverständnis; wenn nicht, ist es perfide. In der Schlüsselszene, auf die ich anspiele, spricht er seinem Kollegen im Vergleich mit seinem jüdischen Lebensgefährten die Würde ab und insinuiert anlässlich eines Besuchs im Jüdischen Museum einen Antisemitismus Daifs, den er mit einer scheinbar entschuldigenden Volte – nämlich Daifs angeblicher Unwissenheit über den Holocaust – als nur noch unentschuldbarer darstellt.
Wenn jemand wie Helfer so etwas schreibt, muss man davon ausgehen, dass er weiß, was er tut: nämlich den anderen, der in diesem Falle nicht nur Rashid al-Daif ist, sondern der arabische Intellektuelle schlechthin, in Deutschland zu verleumden. Das finde ich verwerflich. Und keine gekränkte Eitelkeit, kein noch so verständlicher Groll gegen die Auswalzung des eigenen Intimlebens rechtfertigt eine solche Diffamierung. Hat Helfer sein hohes Ideal von der Freiheit der Literatur, das im Einverständnis zum Ausdruck kam, sein Intimstes als Stoff eines Textes preiszugeben, dann doch irgendwann verraten geglaubt und wollte sich revanchieren? Trotz des bitteren Beigeschmacks, den die Lektüre des Buches daher hat, lässt sich nicht bestreiten, dass es – quasi über Bande – eine Menge über die Fallstricke der Kommunikation verrät. Nur sollte man das nicht eins zu eins auf das Verhältnis von Orient und Okzident verallgemeinern. Ein Sänger der Ironie und ein Trompeter der Moral haben überall Schwierigkeiten, zueinander zu finden.
Rashid al-Daif, Joachim Helfer: „Die Verschwulung der Welt. Rede gegen Rede. Beirut – Berlin“. Edition Suhrkamp, 199 Seiten, 10 €