Als die Wirklichkeit aus Watte war

Flucht aus Peking: „Himmelstänzerin“, das Debüt des chinesischen Wunderkindes Shan Sa, erscheint nachträglich auf Deutsch

VON SUSANNE MESSMER

Der Roman beginnt am 4. Juli 1989, am Abend, als auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Panzer einrollten, als viele junge Leute starben, wie viele, das weiß bis heute keiner. Ayamei, eine fiktive Wortführerin der rebellischen Studenten, irrt durch die Straßen der Stadt, gerät in eine Schießerei, wird schließlich von einem freundlichen Lkw-Fahrer aufgenommen und aus der Gefahrenzone gebracht. Man ist mittendrin, und trotzdem entsteht kein Gefühl der Unmittelbarkeit. Die Welt steht Kopf, und dennoch halten ihre Bewohner mitten in einer Straßenschlacht umständliche Vorträge über soziale Verantwortung.

Fast stoffelig wirken die Szenen, in denen es ums Ganze geht in Shan Sas Buch „Himmelstänzerin“ – ihrem literarischen Debüt, das bereits 1997 in Frankreich erschien und erst jetzt, nachdem ihre Nachfolger „Die Go-Spielerin“ und „Kaiserin“ erschienen sind, ins Deutsche übertragen wurde. Das ist erstaunlich, denn die chinesische Autorin Shan Sa ist hierzulande als schlitzohriges literarisches Wunderkind aufgenommen worden, das, je nach Quelle, gerade mal acht oder elf Jahre alt ist, als sie ihre ersten Gedichte veröffentlicht, fünfzehn, als sie Mitglied des chinesischen Schriftstellerverbandes wird, und achtzehn, als sie entscheidet, Peking 1990 zu verlassen und allein nach Frankreich zu ziehen, wo sie bald darauf für ein kunstfertiges Buch nach dem anderen gefeiert wird.

So wurde auch „Himmelstänzerin“, das sie wie alle nachfolgenden Bücher in französischer Sprache schrieb, mit dem Prix de Goncourt für Erstlingsromane ausgezeichnet. Doch anders als bei den Nachfolgern, in denen sich Shan Sa großen historischen Stoffen widmet – dem chinesisch-japanischen Krieg in den Dreißigerjahren und dem Kaiserhof in der Tang-Dynastie vor mehr als tausend Jahren – geht es in „Himmelstänzerin“ um ein Kapitel in der chinesischen Geschichte, das Shan Sa nicht aus der Vogelperspektive betrachten kann. Dieses Ereignis musste sie aus nächster Nähe beobachten.

Es ist wahrscheinlich die Schuld dieser Distanzlosigkeit, dass sich so manches anfühlt wie durch Watte. Beinahe hat man das Gefühl, als habe die Autorin noch des Öfteren die Kontrolle verloren über ihren Stoff. Als Leser bezahlt man dafür, indem man über manche Ungeschicklichkeiten stolpert. Es ist noch nicht viel zu spüren von der professionellen Fingerfertigkeit, die Shan Sa in ihren späteren Romanen beweist, von der Bildmacht ihrer Sprache, der Prise Erotik, die für große Auflagen sorgt. Dadurch gewinnt man als Leser aber auch. Manchmal fühlen sich manche Wirklichkeiten eben gar nicht wirklich an. Manchmal kommen sie erst mit einer Zeitverschiebung an. Und manchmal bleiben sie in ihrer Bedrohlichkeit und Brutalität unsagbar.

Am Anfang scheint Ayamei wie bewusstlos. Sie kann den hilfsbereiten Lkw-Fahrer kaum wahrnehmen, der sie zu ihren Eltern fährt, dann zur Tante und, als klar wird, dass Ayamei gesucht und verfolgt wird, zu seiner eigenen Familie in Peking und endlich zu seinen Eltern ins kleinen Fischerdorf, fünf Stunden von Peking entfernt. Je weniger Ayamei den Schmerz begreift, desto mehr gleitet der Roman ins Märchenhafte ab, desto mehr dehnt sich sein Sog, der es dem Leser leicht macht, dieses Buch in einem Rutsch zu lesen.

Vor allem ist es dann die Perspektive Zhaos, die Ayamei immer unwahrscheinlicher erscheinen lässt. Zhao ist Leutnant bei der Armee, und er ist von seiner weit entfernten Kaserne abkommandiert worden, um die Studenten in der Hauptstadt zum Schweigen zu bringen. Er war Analphabet und eines von zehn Kindern eines armen Bauern im Süden Chinas, als er in diese Kaserne am Ende der Welt kam und zum treuen Staatsdiener ausgebildet worden ist. „Der Sozialismus“, heißt es, „hatte ihm ein neues Leben verschafft.“ Das ist vorstellbar in einem Land, wo nach wie vor sehr viele Leute ein Leben lang nicht herauskommen aus ihrem Dorf. Nun reist Zhao zum ersten Mal in eine große Stadt, die vor lauter Kaufhäusern und Schnellstraßen nur so glitzert, und als er dann auch noch den Auftrag bekommt, Ayamei einzufangen, die Tochter aus gebildetem, reichem Hause, gerät er so richtig ins Staunen.

Zhao findet bei einer Hausdurchsuchung die Tagebücher Ayameis und liest, wie aus dem braven Kind eine Aufmüpfige wurde. Die Konfrontation des rückständigen mit dem modernen China, wie sie tatsächlich bis heute in diesem forschen Land an der Tagesordnung ist, bringt bizarre Verwerfungen hervor. Dass sie sich als Teenagerin in einen Jungen aus weniger privilegierten Verhältnissen verliebte, dass die beiden von ihren prüden Lehrern und Eltern getrennt wurden: Das kann sich einer wie Zhao, der nur die Phrasen vom brüderlichen Volk und Vaterland gelernt hat, kaum vorstellen.

Am Ende des Romans spürt Zhao Ayamei im Fischerdorf auf. Sie flüchtet in den Wald. Das Trauma der Zeit danach, als die meisten Studenten, Künstler, Musiker und Filmemacher in China in eine kollektive Depression verfielen, findet eine schlagende Metapher. Ayamei verwandelt sich in der Phantasie Zhaos, der sie noch immer jagt, in eine Waldfee. Sie ist wie herausgebrochen aus Raum und Zeit.

Shan Sa: „Himmelstänzerin“. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Piper Verlag, München 2006, 154 Seiten, 12 Euro