: Rudolf und die Detektive
Schriften zu Zeitschriften: Das „Marbacher Magazin“ stellt Geisterfallen für Michel Foucault oder Elfriede Jelinek auf, „Der Titan“ seziert Leben und Werk Rudolf Borchardts
Früh übt sich, wer ein erfolgreicher Geisterjäger werden will. Vor zwei Jahren konnten die Besucher einer kleinen Berliner Ausstellung über den französischen Philosophen Michel Foucault auf einigen Schwarz-Weiß-Porträtaufnahmen auch dessen Charakterkopf betrachten. Die Fotografien stammten vom Mittzwanziger Ulrich Raulff, in dessen kamerabewehrte Geisterfalle der Pariser Meisterdenker einst geraten war, im versunkenen West-Berlin der siebziger Jahre. Raulff, später FAZ- und SZ-Feuilletonredakteur, kann heute die Geisterjägerei im großen Stil betreiben: Als Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach ist er Herrscher über zahllose Nachlässe von Dichtern und Denkern der letzten Jahrhunderte – und somit Hirte, Großwildjäger, Zoo- und Zirkusdirektor in einer Person.
Rund 60.000 Porträtfotografien gehören ebenfalls zu diesen Archivbeständen, von denen eine Auswahl zurzeit in der Marbacher Ausstellung „In der Geisterfalle. Ein deutsches Pantheon“ zu sehen ist. Das Marbacher Magazin, das regelmäßig archivalische Schätze präsentiert, begleitet in einer Doppelausgabe diese Schau. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff schildert dort ihre widerstrebenden Gefühle angesichts bekannter und unbekannter Schriftstellerporträts. Beim weiteren Blättern stößt der Betrachter auf thematisch sorgsam gruppierte Fotografien, der Leser auf subtile Zwischentexte.
Sie alle haben ihren Auftritt, ob spontan oder inszeniert, ob komisch oder pathetisch: der im Gras liegende Wiglaf Droste und sein Ahnherr Eduard Mörike, Hermann Hesse im Gegenlicht an seinem Schreibtisch, die rauchenden Ingeborg Bachmann und Ernst Jünger, Elfriede Jelinek als Dame mit Hund, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, vor dem Spiegel den Selbstauslöser betätigend, der Federball spielende Heinrich Böll, die aufgebahrten Leichname von Gottfried Benn und Hugo von Hofmannsthal.
Das Heft erzählt vom zähen Kampf „um das Bild des dichterischen Geistes, der mit den Mitteln der Fotografie zur Erscheinung gebracht werden soll“ (Raulff). Dass hier die Aura den Sieg über die Analyse davonträgt, verzeiht das Auge des Literaturliebhabers.
In glänzendes, aber nie geschöntes Licht taucht seit 2005 viermal jährlich die Zeitschrift Der Titan einen einzigen Wortgroßmeister: den Dichter, Essayisten, Kritiker und Übersetzer Rudolf Borchardt (1877-1945). Der ironisch-ernste Titel entstammt einem der zahlreichen gescheiterten Zeitschriftenprojekte Borchardts. Jedes der vom Rudolf Borchardt Archiv herausgegebenen Hefte ist eine lesbare gelehrte Abhandlung in edler bibliophiler Ausstattung. In die hohe Kunst der publizistischen Polemik führte etwa Heft 2/2005 ein, in dem Johannes Saltzwedel zahllose Attacken Borchardts auf kleine und große Kollegen gesammelt hatte: Heinrich Heine war ihm ein „Held der Minute“, Schopenhauer „ging immer an der Wahrheit vorbei, allerdings mit großen Schritten“, und Luther galt Borchardt als „Totengräber der kirchlichen Poesie“.
Dorit Krusche spürte in der darauffolgenden Ausgabe den verschwundenen Orten von Borchardts Berliner Kindheit im Kaiserreich nach und rekonstruierte mit historischen Plänen und Fotografien die städtebauliche Vorgeschichte des heutigen Regierungsviertels im Spreebogen. Vom Schicksal der ersten Frau Borchardts berichtet nun nach langjähriger Detektivarbeit Gerhard Schuster in der umfangreichen aktuellen Ausgabe, in der auch ihr Werk erstmals in ausgezeichneten Reproduktionen vorgestellt wird: Nach einer glücklosen Ehe von 1906 bis 1919, in der sie sich für ihren Mann aufgeopfert hatte – von ihm eher roh behandelt, später verdrängt und vergessen –, endete das Leben der Malerin Karoline Borchardt 1944 in Theresienstadt. Mit einer Philologie der Hingabe, die Der Titan praktiziert und die hierzulande ihresgleichen sucht, könnten einmal erjagte Geister tatsächlich unsterblich werden.
ALEXANDER CAMMANN
Marbacher Magazin, Nr. 115/116, 16 €, www.dla-marbach.deDer Titan, Heft 8, 15 €, www.rudolf-borchardt.de