: Die Fantasie isst mit
ALTERNATIVEN Auch wer wegen Laktose- oder Glutenintoleranz auf Milch und Brot verzichten muss, soll nicht verhungern – aber auf den Körper hören
VON WALTRAUD SCHWAB
Keinen Kuchen, keine Sahne, kein Quark, kein Brot, keine heiße Schokolade, kein Croissant mit Butter, kein Bier – und trotzdem glücklich. Wie soll das gehen?
„Es geht“, sagen die, die festgestellt haben, dass sie sich wohler fühlen, wenn sie auf Gluten- und Laktosehaltiges verzichten. Denn wie Pawlow’sche Hunde lernen sie, dass diese Genüsse böse sind. Essen sie davon, werden sie mit Blähungen, Durchfall oder Verstopfung, Bauchschmerzen, Gelenkschmerzen, bleierner Müdigkeit, und was sich ein rebellierender Körper sonst noch ausdenkt, bestraft.
Hat jemand endlich herausgefunden, dass die Grundnahrungsmittel Brot und Bier seine Magen- und Darmprobleme auslösen, hat er sich oft schon zusätzlich eine Unverträglichkeit von Milchzucker eingehandelt. Das ist eine der vielen Folgen, wenn einer, der kein Gluten verträgt, trotzdem weiter Sachen isst, in denen das drin ist. Laktoseunverträglichkeit hat ähnliche Symptome wie Glutenintoleranz. Ist das eingetreten, muss das Einmaleins des Genusses neu geschrieben werden. Denn Verhungern ist keine Alternative.
Die Lösungen, die Betroffene finden, sind verschieden. Die einen werden Rohköstler, die anderen zieht es als Carnivore nach Südamerika und wieder andere versuchen, das Beste daraus zu machen. Wie ich.
Gluten – Klebereiweiß – ist in Weizen, Roggen, Gerste und Dinkel, Emmer, Einkorn enthalten. Nicht dagegen in Mais, Reis, Buchweizen, Soja, Amaranth und Hirse. Geschmacklich sind die glutenfreien Getreide den glutenhaltigen nicht unterlegen – auch wenn sie, wie der nussig-erdig schmeckende Buchweizen, gewöhnungsbedürftig sind. Ihr Nachteil liegt in der Verarbeitung: Die glutenfreien Getreide pappen nicht gut. Für die Massenherstellung ein Nachteil. Bäckereien, die dennoch glutenfreie Backwaren herstellen, verlangen hohe Preise dafür. „Diese Krankheit muss man sich leisten können“, sagt Erika König von der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft. Das spricht gegen eine Modekrankheit.
Was für die Industrie uninteressant, ist fürs Individuum eine Herausforderung. Selber backen ist angesagt. Mehlmischungen aus Reis, Mais, Hirse und Buchweizen sind auf dem Markt. Einziger Nachteil: Torten und Brote aus diesen Getreiden bröseln und krümeln stärker, wenn ihnen kein Ersatzquellstoff, etwa Johannisbrotmehl, zugesetzt ist. Glutenfreies Weizenmehl gibt es auch. Ursprünglich ein Abfallprodukt bei der Stärkegewinnung. Wer damit bäckt, muss auf jeden Fall etwa ein Drittel glutenfreie Stärke zusetzen.
Um das Genusserlebnis schwieriger zu machen, kommt in diesem Szenario hier aber noch die Laktoseunverträglichkeit hinzu. Immerhin sind in Europa etwa ein Viertel der Menschen davon betroffen, weltweit gar 75 Prozent. Da hat die Lebensmittelindustrie schon ausreichend für Ersatz gesorgt: Es gibt laktosefreie Milch. Sie schmeckt süßer als die laktosehaltige und ist ebenfalls teurer. Auch laktosefreie Butter oder Joghurt haben ihren Preis. Beim Käse dagegen hat man Glück. Ist er traditionell hergestellt, „muss der Milchzucker im Reifungsprozess sowieso raus, sonst verdirbt der Käse“, erklärt Bernhard Niedermaier, Lebensmitteltechnologe und Molkereimeister der Firma Bergader. Dafür werden Milchsäurebakterien zugesetzt, die die Laktose in Milchsäure umwandeln.
Bei der Herstellung von laktosefreier Milch wird dagegen in Deutschland das Enzym Laktase zugesetzt, obwohl auch andere Verfahren möglich wären, erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Barbara Klawitter. Laktase ist genau jenes Verdauungsenzym, das der Körper von Leuten mit Laktoseintoleranz gar nicht oder nicht ausreichend selbst produziert. Wird der Milch in der Molkerei Laktase zugesetzt, passiert, was auch in einem gesunden Körper geschieht: „Die Laktose wird in ihre Bestandteile Glukose und Galaktose gespalten.“ Zwei Einfachzucker sind das. Beides, die enzymatische Umwandlung durch Laktase und die Umwandlung mit Hilfe von Milchsäurebakterien sind biologische Prozesse. In der Biologiestunde heißt das Thema dann „Fermentation“.
Laktosefrei allerdings ist auch Sojamilch, Sojasahne, Mandel-, Reis- oder Kokosmilch und Tofu. Man muss sich nur trauen.
Wer zu den geschätzten 400.000 Zöliakiebetroffenen gehört, von denen dann ein Viertel zusätzlich Laktose nicht verträgt, hat mehrere Möglichkeiten, nicht zu verhungern. Wohlhabende können eine Köchin oder einen Koch einstellen, die oder der sie mit Glutenfreiem versorgt. Arme dagegen müssen bitter darum kämpfen, dass ihnen die Jobcenter den Zuschlag von 66,47 Euro für ihre chronische Erkrankung bewilligen. Trotzdem dürften sie Schwierigkeiten haben, damit gesund über die Runden zu kommen. Alle aber tun gut daran, Essgewohnheiten in Frage zu stellen. Dabei hilft es, zurückzuschauen. Brot hatte einen Vorgänger: den Brei. Der brauchte nicht zu kleben.
Mich hat der Brei gerettet. Seit einem Jahr sind mir die Vorfahren aus dem Mittelalter beim Frühstück Vorbild. Hirseflocken, Buchweizengrütze, Sonnenblumenkerne, Sesam, Rosinen und was mir meine Genussfantasie noch diktiert, wird gemischt, mit Wasser und einer Prise Salz aufgekocht, fünf Minuten stehen gelassen. Dann kommt Sojasahne darüber – und Freude daran auf, jeden Morgen etwas derart Leckeres essen zu dürfen. So gestärkt suche ich mir den Rest des Tages das Beste aus Kantinenessen oder koche selbst Wunderbares aus Kartoffeln, Gemüse, Fisch, Reis, Grünzeug und Obst.
Alles wäre schön, wäre ich für Askese geboren. Gut, glutenfreies Bier ist mir keine Himmelspeise, ich gehöre jedoch in die Kategorie jener Genießerinnen, die in keinem Gourmetführer auftauchen: die Naschkatzen. Aber immer nur da einen Apfelschnitz oder ein Orangenspalt, dort ein Granatapfelperlchen oder eine Rosine lässt mich, nun ja, mitunter mit großen Augen zurück. Anstatt traurige Gedichte zu schreiben, lasse ich mir nach monatelanger Enthaltsamkeit deshalb von der Muse nun lieber Kuchenrezepte diktieren. Gut aussehen müssen die Torten nicht, aber gut schmecken. Denn nicht mehr mein Auge, meine Fantasie isst nun mit.