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Archiv-Artikel

Die blaue Tiefe Blau, das weiße Weiß

SEHNSUCHTSORT Eine neue Heimat am Gebirge – die Schriftstellerin Angelika Overath schreibt ein „Senter Tagebuch“

Mehr Blau

■ Hübsch ist, wie die Farbe Blau durch das Werk von Angelika Overath, geb. 1957, wandert. „Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht“ lautet der Titel ihrer Dissertation. Bekannt wurde die Autorin mit ihrem Roman „Flughafenfische“, 2009.

■ „Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch“ erschien bei Luchterhand, München 2010, 256 Seiten, 18,99 Euro

VON JOCHEN SCHIMMANG

Schnee ist die ruhigste Jahreszeit. Ich will sie noch eine Weile, diese besänftigende Decke, den verlässlichen flachen Glanz, die blaue Tiefe Blau über dem weißen Weiß.“

Das ist notiert unter dem 22. März (2010). Etwa zur gleichen Zeit haben wir deutschen Flachlandbewohner im letzten Winter schon gestöhnt, weil wir so viel und so beharrlichen Schnee schon sehr lange nicht mehr gewohnt waren. Die Schriftstellerin Angelika Overath dagegen macht ihre Aufzeichnungen in einer Landschaft, die sich ohne Weiteres die Hälfte des Jahres in den verschiedenen Farben des Schnees präsentieren kann: in Sent, einer Gemeinde im rätoromanischen Unterengadin. Dorthin ist sie zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern von Tübingen aus oft in die Ferien gefahren; dort hat man sich im Jahr 2007 schließlich ganz niedergelassen, um heimisch zu werden.

Kann man das, den Sehnsuchtsort, den man immer nur zeitlich begrenzt aufgesucht und dessen Zauber sich dadurch erhalten hat, zu seiner neuen Heimat machen? Das ist die zentrale Frage, die unausgesprochen allen Aufzeichnungen dieses „Senter Tagebuchs“ zugrunde liegt.

Ganz am Anfang beschreibt Angelika Overath ihren neuen Raum gleichsam im europäischen Format. Das Engadin ist der Garten des Inn, und der entspringt im Oberengadin „und stürzt über Passau, wo er sich mit der Donau verbindet, ins Schwarze Meer. Er ist der Geschwisterfluss der Julia, die über den Rhein in die Nordsee fließt, und der Maira, die mit dem Po zur Adria strömt. Auf dem Dach des Engadins liegt Europas wichtigste Wasserscheide. Ich habe das Engadin immer als europäisch empfunden. Schwarzes Meer. Nordsee. Adria. Wo, wenn nicht hier, grenzte wie Böhmen die Schweiz ans Meer!“

Zugleich handelt es sich aber um einen Raum, der sich für den neu Hinzugekommenen aus mehreren Gründen nicht leicht erschließen lässt. Grenzen unterschiedlichster Art erschweren den Zugang: verkehrstechnische, sprachliche und geschlossene verwandtschaftliche Systeme.

Nein, „aus der Welt“ ist Sent nicht. Ganz und gar aus der Welt zu sein ist heutzutage tendenziell unmöglich. Aber immerhin dauert es seine Zeit, bis man diesen Raum verlassen hat, um vielleicht einen Vortrag in Basel zu halten oder gar eine Lesereise nach Deutschland anzutreten, und ebenso braucht es seine Zeit, nach Sent zurückzukehren. Aber es gelingt immer: „Im Mondlicht stapfen wir durch den Schnee zum Bahnhof von Lavin. Auf dem Bahnsteig drücke ich auf einen Knopf. Ich bin die einzige Reisende, die einsteigen möchte. Als der Zug durch den Schnee kommt, bremst er ab und hält nur für mich. Zehn Minuten später, vor dem Bahnhof in Scuol, wartet schon das Sammeltaxi. Wieder bin ich die einzige Passagierin. Es ist bald Mitternacht. Ich bezahlte sechs Franken Einheitspreis und werde nach Sent gefahren. Es ist dafür gesorgt, dass ich nach Hause komme.“

Nach Hause: Immerhin scheint Overath in dieser Notiz vom 2. Dezember 2009 in Sent schon angekommen zu sein. Soweit man dort ankommen kann, diese Einschränkung muss man machen. Denn dass der Ort schwer zu erreichen ist, eine remote area, wie es an einer Stelle heißt, das ist noch die Schranke, die am leichtesten zu überwinden ist: Tausende von Feriengästen tun das jedes Jahr und schätzen gerade das Geschützte, das Abgeschirmte dieses Landstrichs. „Sie wollen Ferien an einem Ort ohne Diskothek, ohne Nagelstudio, ohne Sushibar. Ohne Leuchtreklame und Animationen. Denn wo es das alles nicht gibt, haben sie die Chance, dass sich ihre Aufmerksamkeit ändert.“

Doch die Feriengäste fahren wieder weg. Die zugezogene Schriftstellerin aber ist entschlossen, den Ort und den Landstrich zu ihrem Zuhause zu machen.

Die deutlichste Schranke für die Fremde ist die Sprache. In Sent wird das Romanische nicht als langsam aussterbende Sprache von irgendwelchen Heimatvereinen gepflegt, es wird gesprochen. Die Kinder, die natürlich in der Schule Deutsch lernen müssen, finden es gleichwohl „affig“, im Alltag Deutsch zu sprechen. Für den jüngsten Sohn Matthias ist es das sprichwörtliche Kinderspiel, Romanisch zu lernen. Schriftsteller haben dagegen bekanntlich oft Schwierigkeiten mit einer Fremdsprache, weil schon die eigene sie ganz und gar in Anspruch nimmt.

Durchs ganze Tagebuch zieht sich der Kampf um die neue Sprache, und der nimmt ebenso traurige wie zuweilen auch komische Gestalt an. Nach dem gemeinsamen Singen: „Ich würde lieber mit ihnen gehen und nicht nach Hause gehen. Aber ich möchte nicht Deutsch sprechen, und Romanisch sprechen kann ich nicht.“ Aber auch: „ ‚Il pavlader‘ ist der Futterknecht. ‚Na pavlar ils chavals‘ steht auf einem Schild auf der Wiese am westlichen Dorfeingang bei den Pferden. Am Anfang übersetzte ich immer: Nicht mit den Pferden sprechen!“

Und als ihr Mann ihr nach dem Romanischkurs vorwirft, sie wolle die Sprache gar nicht lernen: „Ich denke: Stimmt. Ich will sie geschenkt bekommen. Wie eine Muttersprache. Oder. Ich will mit ihr infiziert werden wie mit einer Krankheit.“ Würde das geschehen, weiß Overath, wäre sie vielleicht endgültig drinnen, denn das Romanische, so notiert sie am 7. Februar 2010, sei eine „hauchfeine Grenze gegen die Touristen, aber auch gegen die Zuwanderer. Es ist wie im Märchen. Du musst das Wort kennen, wenn du den Felsen öffnen willst.“

Um den Felsen zu öffnen, beginnt Overath über die Geschichte des Dorfs zu recherchieren, und dabei stellen sich Fragen wie solche nach Heimat, nach Identität, nach Auswandern und Zurückkommen. Denn im Unterengadin und ganz besonders in Sent spielen die Randulins eine große Rolle, die Schwalben. Nicht die, die am Himmel den Sommer anzeigen, sondern jene vor allem in Sent Geborenen, die über Jahrhunderte „aus Not, aus Abenteuerlust nach Italien gegangen“ sind und versucht haben, „dort als Zuckerbäcker ihr Glück zu machen“.

Eine Reportage aus der Intimität; das ist der Grund, warum man sich bei der Lektüre so beschützt fühlt

Infiziert mit Sprache

Viele haben dabei Erfolg gehabt, in Florenz, Livorno und anderswo, und dabei regelrechte Kaffeehausdynastien begründet. „Und sie investierten in das Dorf ihrer Kindheit. Sie bauten italienische Palazzi und legten auf der Senter Straße eine Baumallee an, die hinunterführt bis an die Gemeindegrenze von Scuol.“ Jedes Jahr kommen die Randulins im Sommer und auch zu Weihnachten nach Sent, um sich dort zu treffen, „und überziehen das Dorf der Bauern und Handwerker mit einer urbanen Italianità“. Natürlich gibt es auch Einwohner des Dorfs, die mit Randulins verwandt sind, so wie hier ohnehin alles auf Verwandtschaft beruht: „Die Welt besteht aus Großeltern und Cousinen und Schwägerinnen und Tanten.“

Diese Tatsache ist vielleicht die größte Schranke gegen Touristen und Zugezogene. Allerdings keine feindlich errichtete, sondern eine natürlich vorhandene. Und selbstverständlich ist es nicht das Dorf allein, das sich hier und da sperrt, sondern auch die Schreibende selbst. Das ist ganz ortsunabhängig und liegt an der Profession: „Sent. Der Abstand. Schreiben ist ein paralleles Leben. Man ist ständig in der Gefahr, dem guten Alltag abhanden zu kommen.“

Dass man dennoch in den guten Alltag zurückkommen und den Ort zu einem Zuhause machen kann, zeigt dieses genaue, uneitle und tröstliche Tagebuch. Die letzte Notiz berichtet vom Haareschneiden und den Geschichten, die die Friseurin zu erzählen hat. Das kann, das darf weitergehen, weiß der Leser am Schluss.

Ihre Romane seien „Reportagen aus der Intimität“, hieß es im Klappentext des 2009 erschienenen Romans „Flughafenfische“, in dem ebenfalls ein besonderer Raum erforscht wird. Auch das „Senter Tagebuch“ ist eine Reportage aus der Intimität; das ist der Grund, warum man sich bei der Lektüre so beschützt fühlt. Auch in diesen Aufzeichnungen allerdings bezeichnet sie sich weiterhin hartnäckig als Reporterin oder Journalistin und schrickt fast ein wenig zusammen, als sie sich ein einziges Mal in ein Anmeldeformular als Schriftstellerin einträgt. Ihre Leser dagegen wissen schon etwas länger, dass sie eine der eigenständigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur ist.