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Archiv-Artikel

In Wildwest-Afrika

AUS JUBA MARC ENGELHARDT

Der aufgeschüttete Sandstrand am Nil ist bei Jubas Entwicklungshelfern der letzte Schrei. Auf den Liegestühlen im Civicon Camp, das von einem Österreicher betrieben wird, treffen sich die zahlreichen Mitarbeiter von UN und Hilfsorganisationen in der südsudanesischen Hauptstadt zum Sonnenuntergang auf ein kühles Bier, die Flasche für 5 Euro. Es wird getrunken, gegrillt und getanzt, bis um 23 Uhr die nächtliche Ausgangssperre beginnt. Denn draußen vor der schwerbewachten Tür herrscht zwei Jahre nach dem Friedensschluss zwischen Sudans Regierung und der südsudanesischen SPLA (Sudanesische Volksbefreiungsarmee) bittere Armut und zunehmend Gewalt. Viele sagen, die Hauptstadt des Südsudan sei inzwischen unsicherer als noch im Krieg.

Die 16-jährige Lucy steht mit einigen Freundinnen an der holprigen Sandpiste und schaut erwartungsvoll den weißen Landcruisern entgegen, die vom Nilstrand nach Hause fahren. Wenn die Autos nahe genug sind, hebt sie ihren giftgrünen Wickelrock bis zum Oberschenkel. „Manchmal hält ein Auto an, und einer der Fahrer nimmt mich mit zu sich ins Bett“, erzählt Lucy freimütig. Ein paar hundert Dinar bekommt sie für eine Nacht, knapp 1 Euro.

Ihre Freier, sagt Lucy, arbeiten für die UN oder internationale Hilfswerke und kommen aus verschiedenen Ländern. „Auch viele meiner Freundinnen verkaufen sich an die Ausländer. Anders können wir nicht überleben.“ Die Berichte über die Vergewaltigungen hat sie gehört, von gerade mal 12-jährigen Kindern, die nach dem Missbrauch aus den Dienstwagen geworfen wurden wie ein Sack Kartoffeln. „Aber mir ist so was nie passiert, und ich habe auch keine Angst.“ Sie hält inne. „Und selbst wenn, ich hätte auch keine Wahl.“

Lucy hat keine Eltern mehr. Eine Schule hat sie nie besucht. Sie lebt auf der Straße, wie viele andere, die im Bürgerkrieg zu Waisen geworden sind. Juba ist ein Brennglas der Zerstörung, die der jahrzehntelange Krieg in Südsudan angerichtet hat: Hunderttausende Flüchtlinge haben sich in den vergangenen zwei Jahren rund um die Stadt angesiedelt, die Bevölkerung ist von 300.000 auf mehr als 800.000 explodiert.

Staatliche Hilfe für Kriegswaisen oder gar Kinderheime gibt es nicht im Südsudan, weiß Paul Obura vom britischen Kinderhilfswerk Save the Children. „Wir versuchen, innerhalb der Dörfer und Stadtviertel Patenschaften oder anderen Schutz für die Kinder zu organisieren“, erklärt der 36-jährige Kenianer. Mit mäßigem Erfolg. „Die Armut ist riesig hier, eine solche Masse an Hilfsbedürftigen habe ich noch nie gesehen.“ Viele Straßenkinder würden schon im frühen Alter Opfer von Prostitution oder Missbrauch. Dass die Täter oft diejenigen sind, die eigentlich helfen sollen, hat Obura selbst erlebt. „Wir mussten hier im Sudan schon mehrere Leute rauswerfen, die sich an Kindern vergangen haben.“

Die UN, die wegen der Missbrauchsvorwürfe besonders am Pranger stehen, haben seit ihrer Stationierung vor zwei Jahren einen einzigen Soldaten nach Hause geschickt. „Der ist nachts aus dem Camp geflohen und hat sich mit ein paar Keksen und Lebensmitteln Sex von einem Mädchen erkauft“, erklärt der oberste Befehlshaber der UN-Truppe in Juba, Oberst Elahi Rahman aus Bangladesch. Seit den skandalösen Vergewaltigungen durch UN-Soldaten im Kongo gilt auch für die Blauhelme im Sudan die Auflage: Kein Sex mit Einheimischen. Die Baracken dürfen nur nach vorheriger Abmeldung verlassen werden. Und ohne Auto geht kaum etwas: Vom Stützpunkt an Jubas Flughafen bis zur ersten Disco, der Kololo-Bar, ist es eine zehnminütige Fahrt.

Kekse gegen Sex

Seit einigen Wochen ist die Bar ohnehin geschlossen. „Aber ausschließen kann man natürlich trotzdem nichts, bei der Anzahl der UN-Angestellten hier“, sagt der Oberst. Nicht alle der 10.000 UN-Soldaten in Südsudan sind kaserniert, manch einer lebt in der Stadt. Kein Mensch kontrolliert, was sie am Abend treiben. Das Gleiche gilt für die Polizisten unter UN-Mandat und die Mitarbeiter der UN-Hilfswerke.

Zwei Jahre nach dem formalen Ende des Bürgerkriegs hat Juba das Flair von Afrika-Wildwest. Wenige Tage genügen, um dem Besucher ein Gefühl von genereller Gesetzlosigkeit zu geben. Wer sich ein Auto leisten kann, malt sich selbst ein imposantes Nummernschild und rast ohne Rücksicht auf Verluste über die holprigen Schlaglochpisten. Polizisten, die Gesetzesverstöße ahnden könnten, werden erst noch ausgebildet, unter Mithilfe der deutschen Polizei. Die ersten vierzig haben gerade ihre Fahrprüfung abgelegt, doch Streifenwagen oder Funkgeräte haben sie nicht. Viele Polizisten sind in der Grundausbildung auf Piktogramme angewiesen, weil sie weder lesen noch schreiben können. Kein Wunder, dass bislang kein einziger Fall von Kindesmissbrauch zur Anzeige gebracht wurde.

Die wahren Herren über Recht und Unrecht im „neuen Sudan“ sind ohnehin andere. „Wir haben kürzlich einen SPLA-Soldaten wegen einer Vergewaltigung eingebuchtet“, berichtet ein deutscher Polizeiausbilder. „Ein paar Stunden später kamen zehn seiner Kameraden mit Kalaschnikows und haben den Mann wieder mitgenommen.“ Beschwerden oder Einsprüche vor Gericht verlaufen ergebnislos im Sand. Die ehemalige Rebellenarmee, die jetzt Südsudan als autonome Region regiert, kann sich alles erlauben in Juba.

Das mussten selbst die Armeeführer lernen, die inzwischen als Regierungspolitiker in die zahlreichen klimatisierten Flachbauten am Rande Jubas eingezogen sind. Eine Woche vor Weihnachten tranken sich Soldaten in der Kololo-Bar Mut an, bevor sie hackedicht und schwerbewaffnet durch die Straßen marschierten, in die Gegend schossen und die Auszahlung ihres Soldes forderten. Als ihr Kommandeur sie per Radio aufforderte, in die Kasernen zurückzukehren, stürmte die Truppe kurzerhand den Regierungssender und forderte die verdutzte Radiomannschaft auf, den Sendebetrieb einzustellen. „Aber die Generatoren für den Sender stehen bei den UN, und deshalb standen die Soldaten kurze Zeit später vor unserer Tür“, erinnert sich der deutsche Oberst Jürgen Bergmann, der nach Rahman ranghöchste Mann im Unmis-Bataillon.

Erst als Südsudans Präsident Salva Kiir persönlich mit den Soldaten verhandelte, beruhigte sich die Lage wieder. Zwei Zivilisten waren da bereits gestorben. Besonders pikant: Die Soldaten gehörten zu dem Teil der Truppen, der von Sudans Regierung in Khartum bezahlt werden muss. Doch das hatte die Zentralregierung, die mit aller Macht die Unabhängigkeit des ölreichen Südens verhindern will, irgendwie vergessen.

Armee und Staat sind eins

Bergmann, seit sieben Monaten in Juba, befürchtet, dass der auf sechs Jahre angelegte Friedensprozess an den zunehmenden Spannungen im Südsudan selber scheitern könnte. „Die ethnischen Dinka haben ein klares Übergewicht in der Führung von Armee und Staat und vergrätzen die anderen Volksgruppen mit einer kaum glaublichen Überheblichkeit.“ Armee und Staat sind im Südsudan ohnehin bis heute eins, das Führungsmodell der Autonomieregierung erinnert in seinen Zügen an eine Militärdiktatur. „Aber die SPLA ist immer noch eine Rebellentruppe, keine richtige Armee“, warnt Bergmann.

Weil es keine funktionierende Befehlskette gibt, mussten bei Gefechten mit von Khartum unterstützten Milizen in der Ölstadt Malakal hunderte Menschen sterben, bevor die Generäle in Juba die Kämpfe beenden konnten. „Die Befehlshaber in Malakal haben ihre Satellitentelefone nicht abgenommen – schließlich mussten wir in einem UN-Flugzeug nach Malakal, damit der Befehl persönlich vor Ort gegeben werden konnte“, sagt der Deutsche. In einer unterbezahlten Armee, die laut Bergmann zudem unter Disziplinlosigkeit und hohem Alkoholkonsum leidet, kann auf diese Weise ein Bürgerkrieg beginnen. Vor allem deshalb, weil die Soldaten der verschiedenen bewaffneten Gruppen im Südsudan nie gefragt wurden, ob sie sich der nördlichen oder der südlichen Armee anschließen wollen.

Bei der heutigen offiziellen Feier in Juba zum zweijährigen Jubiläum der Befreiung werden all diese Probleme kein Thema sein. Stattdessen präsentiert die Regierung einen neuen Meilenstein auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Der im Süden ungeliebte Dinar, der vom Khartumer Regime nach der Machtergreifung von Präsident Omar al-Baschir 1989 eingeführt wurde, wird ab heute durch eine neue Währung ersetzt, das sudanesische Pfund.

„Die Scheine sind von Symbolen der Einigkeit geziert: Kamele, Kühe, der Nil“, freut sich der Chef der südsudanesischen Zentralbank, Elijah Aleng. Angeblich ist das neue Geld bereits gedruckt, nur gesehen hat es noch niemand. Eine großzügige Übergangsfrist verspricht Aleng deshalb schon einmal vorsorglich. Theoretisch soll das Pfund den Dinar auch im islamischen Norden ablösen, in Juba soll die Einheitswährung auch die inoffiziellen Zahlungsmittel US-Dollar, kenianische und ugandische Schilling ersetzen. Doch für die meisten Bewohner der Stadt dürfte es schlicht egal sein, welche Währung es ist, die sie nicht besitzen.